«Rauch und Schall»
Roman
2023, Verlag Diogenes
Darf man ein Buch mit dem Satz beginnen: «Goethe hatte Hämorrhoiden»? Meine Lektorin war der Meinung, dass man das auf keinen Fall dürfe, aber sie konnte mich nicht überzeugen. Ich finde: Dieser Einstieg macht dem Leser von Anfang an klar, dass er kein wirklich seriöses Buch vor sich hat. Und das verdrehte Goethe-Zitat als Titel macht es dann endgültig klar.
Es geht in der Geschichte um Goethe und seinen Schwager Vulpius. Beide waren sie Schriftsteller, aber da endet die Gemeinsamkeit auch schon. Goethe schrieb klassische Meisterwerke, während Vulpius über die Trivialliteratur nie herauskam. Ausser in diesem Roman. Denn wenn Goethe unter Schreibstau leidet und ein Ablieferungstermin immer näher rückt, kann es ganz nützlich sein, so einen Schnellschreiber zum Schwager zu haben…
Kritiken
Leseprobe
Es war die Hölle.
Dass ihm die Musen, die doch all die Jahre seine treuen Gefährtinnen gewesen waren, auf einmal jede Unterstützung verweigerten, dass sie so unerreichbar fern schienen, als seien sie ihrerseits auf Reisen und vergnügten sich, jeder Verpflichtung ledig, im Gebirge oder am Meer, dass ihm die Worte, mit denen er sonst spielen konnte wie ein Gaukler mit seinen Bällen, wie tonnenschwere Steinquader erschienen, aus denen er, angetrieben von den Peitschenhieben mitleidsloser Aufseher, mit bloßen Händen ein Haus errichten sollte, einen Turm, eine Pyramide, dass es sich anfühlte, als halte ihm ein Dämon – ach was: als hielten ihm tausend Dämonen die Hand fest und hinderten ihn daran, auch nur einen Buchstaben zu Papier zu bringen, dass die Gedanken schneller vor ihm flohen, als er sie erspähen konnte, Rehe, die schon bei der leisesten Ahnung einer Annäherung im Unterholz verschwanden, dass er sich fühlte wie ein Blinder, von dem verlangt wird, dass er eine Landschaft beschreibe, wie ein Stummer, der eine Rede halten soll, dass sein Verstand eingetrocknet schien, zu Staub zerfallen, mumifiziert, dass er sich kaum mehr daran erinnern konnte, wie es einmal gewesen war, als ihm die Formulierungen wie zahme Vögel von selber zugeflogen waren, und sich die Reime, magnetisch voneinander angezogen, fast ohne sein Zutun zu Paaren zusammenfügten, dass ihm das Schreiben, das er doch immer so geliebt hatte, heute vorkam wie die Fron eines Galeerensklaven, mit schweren Eisen an seine Ruderbank gekettet, dass er sich selber verloren hatte, kein Dichter mehr, nur noch ein Wechselbalg mit schwerer Zunge – all das war noch nicht das Schlimmste.
Auch die Angst, ein enttäuschter Herzog könne ihm seine Gunst entziehen, könne ihn fallen lassen, wie er ihn durch seine Gnade erhoben hatte, könne ihm seine Ämter wegnehmen und die Ehrungen aberkennen, auch die Befürchtung, durch den nicht ausgeführten Auftrag von einem Besonderen wieder zu einem Gewöhnlichen zu werden, ein Handwerker, der in seinem Handwerk versagt hat, den Stoff nicht richtig zugeschnitten und das Holz nicht auf das gewünschte Maß zurechtgesägt, auch die Panik, die ihn packte, wenn er sich die möglichen Folgen seines Versagens ausmalte, Lächerlichkeit, Schande, vielleicht sogar Exil – seine Phantasie, die bei den bestellten Versen vor dem kleinsten Hindernis bockte, kam beim Ausmalen solcher Schreckensbilder ins immer schnellere Galoppieren – auch diese apokalyptischen Visionen waren noch nicht das Schlimmste.
Das Schlimmste, das er nicht zu denken versuchte, und das doch seine Gedanken beherrschte, war die Angst, dass dieser Zustand ein dauernder werden könnte, eine Krankheit ohne Antidot, dass er die Fähigkeit, mit Worten Welten zu erschaffen, ein für allemal verloren haben könnte, so wie er von Menschen gelesen hatte, die von einem Tag auf den andern ihre Nächsten nicht mehr erkannten oder sich im eigenen Haus verirrten. Dass ihm auf seiner Reise in die Schweiz außer der einen oder anderen brauchbaren Formulierung nichts Neues eingefallen war, weniger als nichts, dass er mit leeren Händen und leerem Verstand zurückgekommen war, ohne einen Plan für ein neues Werk, waren das – er wollte es nicht denken und dachte es doch – die ersten Symptome einer Krankheit gewesen, die jetzt ihren Höhepunkt erreicht hatte? «Die Musen saugen einen aus», hatte ihm Schiller einmal geschrieben, konnte es sein, dass sie ihn leergesaugt hatten, dass sie ihn aufgegeben hatten, weil sie sich von ihm keinen Honigseim mehr erhofften, so wie August das Stück Süßholz, an dem er stundenlang herumgekaut hatte, wegwarf, weil nur noch zähe Fasern ohne jeden Geschmack davon übrig waren? Sollte er, Johann Wolfgang von Goethe, dazu verurteilt sein, im Serail der Künste künftig nur noch als Eunuch geduldet zu werden, unfruchtbar wie ein Ochse? War jener Keim von Verwegenheit, ohne den kein Talent etwas Großes schaffen kann, in ihm vertrocknet, abgestorben, verfault, und zwar nicht nur für den Moment, sondern für den Rest seines Lebens?
Zurück zur Übersicht