«Täuschend echt»
Roman
352 Seiten
2024 Verlag Diogenes

Kann die künstliche Intelligenz einen Schriftsteller besser machen? Oder macht sie ihn irgendwann überflüssig?
In «Täuschend echt» versucht sich ein gescheiterter Werbetexter an einer getürkten Autobiografie – und zwar soll es die Geschichte einer Frau werden, die er zu diesem Zweck (und zum Geldverdienen) erfunden hat. Mit Hilfe der KI trägt er auch eine Menge an Informationen zusammen, auch wenn ihm das Programm immer wieder mal völlig sinnlose Vorschläge macht. Richtige Probleme bekommt er erst, als das Buch überraschend zum Grosserfolg wird, und eine Literatursendung unbedingt die Autorin präsentieren will – die nur leider gar nicht existiert.
Mein besonderer Spass bei der Arbeit bestand darin, die Texte der künstlichen Intelligenz auch tatsächlich von einer KI schreiben zu lassen und sie unverändert ins Buch zu übernehmen.
Leseprobe
Sie hat gesagt: «Leute wie du werden beruflich bald so überflüssig sein, wie du es privat schon immer gewesen bist. Solche Texte lässt man heutzutage von einer künstlichen Intelligenz schreiben. Schneller und besser.»
Sie hat das einfach so dahingesagt, natürlich. Hat eine offene Wunde vermutet und wollte darin herumstochern.
Dabei versteht sie nichts von meinem Beruf. Nichts von künstlicher Intelligenz. Hat den Begriff Artificial Intelligence irgendwo aufgelesen wie einen interessant geformten Stein und ihn mir an den Kopf geworfen, weil gerade nichts anderes zur Hand war.
Aber, ich mache mir da nichts vor, ich bin ein unsicherer Mensch. Sie hat mir den Gedanken ins Hirn gepflanzt. Den Krankheitskeim. Sie wusste, dass er mir keine Ruhe lassen würde.
Ich wollte ihr
Mir selber.
Ich wollte mir beweisen, dass sie nicht recht hat. Die Zeitungen waren gerade voll mit dem Thema und den Adressen von Webseiten, auf denen man sich Texte schreiben lassen kann. Ich habe, ohne lange Überlegung, ein paar Stichworte zu dem Kundenbrief eingegeben, an dem ich gerade saß.
Frühstücks-Müsli. Sie hat das Wort immer so verächtlich ausgesprochen, als ob es noch viel mehr Ü’s hätte. Früüühstück. Müüüsli.
Natürlich, Brad Pitt würde nie einen Frühstücks-Müsli-Texter spielen. Bungeespringen ist abenteuerlicher. Aber man kann von solchen Texten leben.
Noch.
Es hat keine Sekunde gedauert, und schon hat der Computer ein Ergebnis ausgespuckt.
Mit einem gesunden Müsli starten Sie den Tag fit und ausgeruht. Unser Müsli ist eine gesunde Alternative zum herkömmlichen Frühstück und sorgt für einen guten Start in den Tag.
Mit unserem Müsli starten Sie jeden Morgen mit neuer Energie in den Tag. Es ist reich an Ballaststoffen, Vitaminen und Mineralien und sättigt Sie bis zum Mittagessen. Zusätzlich ist es glutenfrei und damit für alle geeignet. Durch die Zugabe von frischem Obst und Joghurt erhalten Sie zusätzlich wichtige Nährstoffe, die Ihnen den ganzen Tag über Energie geben.
Mein Todesurteil.
Anderberg würde manches daran zu mäkeln finden. Anderberg findet immer etwas zu mäkeln. Die eine oder andere Stelle ließe sich verbessern, nicht dreimal «Start» so kurz hintereinander zum Beispiel, aber das wäre in zehn Minuten erledigt.
Bald wird man nicht mehr selber schreiben, sondern nur noch ab und zu korrigierend eingreifen. In Kalifornien, habe ich gelesen, darf ein Tesla nur dann im Selbstfahrmodus auf die Straße, wenn ein menschlicher Fahrer hinter dem Lenkrad sitzt. Unsere Sprache formuliert es schon richtig: Man bedient einen Computer. Er lässt sich von uns bedienen. Ein paar Schönheitskorrekturen, und der Text ist fertig.
Irgendwann wird man auch sämtliche stilistischen Regeln einprogrammieren können. Kann es vielleicht jetzt schon, und ich habe nur nicht die richtigen Kästchen angeklickt.
Sie wollte mir Angst machen, und es ist ihr gelungen.
Kritik
Ein Werbetexter legt einen Literaturkritiker herein
Charles Lewinsky beschreibt in seinem neuen Buch, wie man mit KI einen erfolgreichen Roman schreibt. Dazu braucht es kriminelle Energie
VON RAINER MORITZ
Zuletzt war es Goethe, der nicht weiterwusste. Der von seiner dritten Schweizer Reise nach Weimar zurückkehrte und sich plötzlich ausserstande sah, einfachste Gelegenheitsgedichte zu Papier zu bringen, von glanzvollen literarischen Arbeiten ganz zu schweigen. Dieser Goethe begegnete uns in «Rauch und Schall», Charles Lewinskys letztem Roman. Darin überwand der Dichterfürstseine streng geheim zu haltende Schreibblockade, indem er widerwillig seinen Schwager Christian Vulpius, einen unermüdlichen Verfasser von Trivialromane, um Beistand bat.
Auch Lewinskys neues Werk «Täuschend echt» befasst sich mit den Unwägbarkeiten der literarischen und unliterarischen Textproduktion, diesmal freilich ganz in unserer Gegenwart situiert. Der Ich-Erzähler, ein konservativer Jazzliebhaber und Werbetexter Ende dreissig, sieht sich mit mehreren Problemen konfrontiert. Seine Freundin Sonja (die eigentlich Sibylle heisst) hat sich schnöde von ihm abgewandt, schickt ihm einige Verwünschungen hinterher und bedient sich, wie sich später herausstellt, eifrig seiner Kreditkarte. Sie hinterlässt nicht mehr als ein Terrarium mit einer Kornnatter, deren Hauptnahrung, tiefgefrorene Mäuse, ihr Ex in seinem Kühlschrank aufbewahren muss.
Damit nicht genug. Auch beruflich steht es nicht zum Besten, denn sein Spezialgebiet, das Verfassen von Werbetexten für einen Müesli-Hersteller, wo spitzfindig die Geschmacksunterschiede zwischen «crisp» und «crunchy» herausgearbeitet werden, könnte alsbald von jemanden anderem übernommen werden, der kostengünstiger und schneller arbeitet: von der künstlichen
Intelligenz.
Erfundene wahre Geschichten
Lewinskys geschundener Protagonist macht umgehend die Probe aufs Exempel und stellt fest, dass die omnipräsente KI in der Lage ist, seinen Job im Handumdrehen zu erledigen. Und so kommt es, wie es kommt: Der Müeslimann verliert seinen Job und sucht verzweifelt nach Betätigungsfeldern für seine nicht sehr umfangreichen Begabungen. Die Rettung naht durch seine Nachbarn Bill und Belle, die vor Gutmenschentum und Wokeness strotzen und den Werbetexter mit ihrem schwerreichen Freund Frank zusammenbringen. Dieser will sein Geld in einem angesehenen Verlag investieren und die Menschheit dadurch aufrütteln, dass er Bücher schreiben lässt, die aufwühlende «wahre» Geschichten aus allen Elendsregionen der Welt zum Besten geben.
Lewinskys Erzähler, der vorgibt, ein ebensolcher Altruist zu sein, scheint der richtige Mann, um Franks Ziele umzusetzen. Echt und ehrlich soll alles an diesen tränenreichen «Narrativen» sein, doch der einstige Müeslispezialist erkennt schnell, dass die nackten Fakten nach Aufhübschung und Ausschmückung, nach Fake-Zutaten verlangen, damit die Emotion geweckt und die
Welt gerettet werden kann.
Charles Lewinsky legt wieder einen einfallsreichen, vor Witz sprühenden Text vor, der die ernste Frage, was wahrhaftiges Schreiben im KI-Zeitalter noch bedeuten kann, federleicht umkreist. Sein Held nähert sich der künstlichen Intelligenz an, tauscht sich mit ihr aus, nennt sie alsbald liebevoll «Kirsten» und verfasst gemeinsam mit ihr die bewegende Autobiografie des – frei
erfundenen – afghanischen Mädchens Schabnam, das in sein Heimatland verschleppt und zwangsverheiratet wird, ehe es einem Säureattentat zum Opfer fällt.
Kirsten und der Erzähler leisten ganze Arbeit. Ihr «Angst!» betiteltes Manuskript begeistert Frank und den Verlag und entwickelt sich schnell zu einem Bestseller. Schliesslich erregt es die Aufmerksamkeit des aus der realen Welt bekannten TV-Literaturkritikers Denis Scheck. Damit droht neuer Ärger, denn er will Schabnam vor laufender Kamera zu ihrer «berührenden
Lebensbeichte» befragen. Der Erzähler, der immer vorgab, ausführliche Gespräche mit der nicht existenten jungen Frau geführt zu haben, weiss sich jedoch zu helfen. Er droht seiner Ex-Freundin, der Kreditkartenbetrügerin Sonja, mit einer Anzeige, sofern sie sich nicht, von einem Gesichtsschleier bedeckt, als Schabnam ausgibt und dem einfühlsamen TV-Kritiker Rede und Antwort steht.
Sein Geständnis
Der Coup gelingt, die Sendung mündet in einen grossen Erfolg für Sonja, Kirsten und den Erzähler: «Sie bestand darauf, dass ‹Angst!› keine Literatur sei, sondern nur der ungeschickte Versuch, sich schmerzhafte Erfahrungen von der Seele zu schreiben. Worauf Scheck natürlich gar nicht anders konnte, als zu versichern, doch, das Buch sei gerade deshalb grosse Literatur
und er könne jedem Zuschauer nur raten, es zu lesen.»
Das letzte Wort ist damit in diesem gewitzten Roman noch nicht gesprochen. Wie dieses lautet, darf hier freilich keinesfalls verraten werden. Eine Lehre, die «Täuschend echt» bereithält, liegt auf der Hand: Mit ein wenig redaktioneller und stilistischer Betreuung schafft es jede KI, egal, ob sie Kirsten oder Kimberley heisst, Müeslitexte oder Frauenleidenskonfessionen mit links und auf Knopfdruck zu produzieren.
Charles Lewinsky selbst gibt übrigens an, dass sein Roman kein ausschliessliches KI-Produkt sei. Im Vorspann heisst es: «Alle kursiv gedruckten Texte sind von den Programmen Chat-GPT und Neuroflash geschrieben oder stammen von Wikipedia und anderen Webseiten.» Einiges immerhin ist in «Täuschend echt» nicht kursiv gesetzt. Bleibt zu hoffen, dass Kirsten keine Urheberrechtsklage einreicht.
© Neue Zürcher Zeitung
Erschienen am 30.10.2024