Roman
680 Seiten
2020, Verlag Diogenes

Die Talschaft Schwyz im frühen 14. Jahrhundert, das Erwachsenwerden eines Teenagers in einem abgelegenen Dorf, historische Ereignisse, die manche Entwicklungen in der Schweiz bis heute geprägt haben – und trotzdem wollte ich nicht primär einen historischen Roman schreiben. Mir ging es um das Erzählen an sich, und welche Rolle Geschichten beim Verfertigen der Wirklichkeit spielen. Wenn ich zurückblicke, scheint mir, dass das in fast allen meinen Romanen ein zentrales Thema war.

Bei Lesungen wird mir oft die Frage gestellt, was die erste Anregung zu einem Roman gewesen sei, und meistens weiß ich keine Antwort. In diesem Fall ist es anders: Der erste Anstoß zur Geschichte war ein einziges Wort. Oder, um es genauer zu sagen: ein Kalauer. Ich las irgendwo, dass die Hellebarde früher Halparte geheißen habe, und mein wortspielsüchtiger Kopf dachte sofort: Diese Waffe muss ein Mann mit einem halben Bart erfunden haben. Und dann fing ich an, nachzudenken…

«Schreiben ist leicht. Man muss irgendwo anfangen und dann so lang auf ein leere Blatt starren, bis die Stirne zu bluten beginnt.» Ich habe keine Ahnung, von wen dieses Zitat stammt. Aber: Der Mann hatte recht.

Übersetzungen:
Holländisch
Italienisch

 

Wie der Halbbart zu uns gekommen ist, weiß keiner zu sagen, von einem Tag auf den anderen war er einfach da. Manche glauben sicher zu wissen, man habe ihn am Palmsonntag zum ersten Mal gesehen, andere behaupten steif und fest: Nein, am Karfreitag sei es gewesen. Sogar zu einer Schlägerei ist es deshalb einmal gekommen.

Nach der Fastenzeit wollen die Leute den angesparten Durst loswerden, und so hat der Kryenbühl Martin einem Säumer zwei Fässer Wein abgekauft, ein kleines mit Malvasier und ein großes mit Räuschling, und in diesem Räuschling, habe ich berichten hören, sei der Fremde versteckt gewesen, habe sich zusammengerollt, klein wie ein Siebenschläfer, wenn der sich tagsüber in einem toten Baum verkriecht, und sei dann um Mitternacht durch das Spundloch hinausgeschloffen und wieder zu seiner vollen Größe angeschwollen, mit einem Geräusch, wie wenn ein Sterbender sich den letzten Atem abpresst. Aber der das erzählt hat, war der Rogenmoser Kari, der nach dem fünften Schoppen auch schon gesehen hat, wie der Teufel aus dem Ägerisee aufstieg mit feurigen Augen. Andere sagen, der Fremde sei vom Berg heruntergekommen, damals beim kleinen Felssturz, und sei dann ein ganzes Jahr in dem Steinhaufen liegengeblieben, von keinem bemerkt, vom Staub zugedeckt wie ein Wintergrab vom Schnee. Mitten zwischen den Felsbrocken sei er die Fluh heruntergepoltert, sagen sie, und habe sich dabei wie durch ein Wunder keinen einzigen Knochen gebrochen, nur das Gesicht habe es ihm vertätscht, die rechte Hälfte, darum sehe er so aus, wie er aussieht. Mit eigenen Augen hat es keiner von denen gesehen, die darauf schwören, aber eine gute Geschichte hört man immer gern, wenn die Nächte lang sind und das Teufels-Anneli in einem anderen Dorf.

 

Kritik Frankfurter Rundschau vom 28. August 2020

Dann wird es die Wahrheit sein

von Martin Oehlen

Von einem, der das Blaue vom Himmel erzählt: Charles Lewinskys Roman „Der Halbbart“.

Wenn man einmal ins Erzählen kommt, fällt einem immer noch mehr ein, dagegen kann man nichts machen.“ Das glauben wir dem Sebi aufs Wort. Denn als Ich-Erzähler in Charles Lewinskys Roman „Der Halbbart“ serviert er uns eine Geschichte nach der anderen. Was wir da alles erfahren, fügt sich zu einer großen Erzählung zusammen. So intensiv ist das Vergnügen, dass man gegen Ende immer langsamer liest, damit es nicht so bald vorbei ist. Dabei zählt das Buch, soeben nominiert für den Deutschen Buchpreis, stolze 680 Seiten.

Eusebius, den alle Sebi nennen, ist 13 Jahre alt. Er lebt zu Beginn des 14. Jahrhunderts in einem kleinen Dorf in der Talschaft Schwyz, nicht weit entfernt vom mächtigen Benediktinerkloster Einsiedeln. Aus Sebis erfrischend naiver, dadurch der Welt die Schwere nehmender Perspektive wird von Entbehrungen und Gewalt, Gottesfürchtigkeit und Aberglaube, Egoismus und Nächstenliebe erzählt.

Mittendrin agieren viele eindrucksvolle, auch widersprüchliche Figuren. Darunter ist der Halbbart des Romantitels, dem ein Unrecht geschehen ist, das er nur zögernd preisgibt. Er ist ein lebenserfahrener und medizinisch versierter Dorfbewohner, der allerdings auf Rache sinnt. „Angst habe er in diesem Leben keine mehr übrig“, sagt er dem Sebi, „der Vorrat sei bei ihm längst aufgebraucht“. Mehr als totschlagen könne man ihn nicht – „und da sei ihm schon bedeutend Schlimmeres passiert.“

Noch viele weitere Personen sind zu entdecken. So stehen Sebis Brüder Poli und Geni für Hölle und Himmel – der eine sucht die Selbstverwirklichung im Soldatentum und der andere ist ein geschätzter Ratgeber des Landammanns. Ihr Onkel Alisi fällt als gewissenloser Haufen-Anführer und narzisstischer Schwadroneur auf, der mit seiner tumben Art auch noch durchkommt. Stoffel der Schmied gefällt uns, dessen Tochter Kätterli, der falsche Priester Hubertus, der alte Laurenz – ja, da sind viele Menschen, deren Bekanntschaft sich lohnt.

Sebi weiß, dass es bei ihm nicht reicht zum Soldaten, auch nicht zum Mönch und nur bedingt zur Feldarbeit. Immerhin – dem Totengräber hilft er regelmäßig beim Ausheben, weil dem alle Knochen wehtun. Aber welche Rolle soll Sebi im Leben einmal einnehmen? Eines Tages weiß er es: Er will dem Teufels-Anneli nacheifern, die als Erzählerin auf Tournee geht und in ihrem Programm „Klassiker“ und Novitäten präsentiert. Mit Geschichten, davon ist Sebi überzeugt, lasse sich vieles am besten beschreiben. Und dem Teufels-Anneli reicht’s, um satt zu werden. Dann könnte es doch auch bei ihm klappen.

Charles Lewinsky fesselt seine Leserschaft von Kapitel zu Kapitel – 83 sind es insgesamt – mit Tragischem und Poetischem, mit Witz und Spannung, auch mit Erhellendem über eine ferne Epoche. Die Erzählung ist dezent gespickt mit Redewendungen und mit Helvetismen, die ihr eine kräftige Würze geben. Die Vokabeln werden vom Diogenes Verlag online erläutert: Von „angattigen“ für „angehen“ bis „zäukeln“ für foppen. Eine persönliche Lieblingsvokabel haben wir: „prälaggen“ für „wichtigtuerisch schwatzen“. Und gleich dahinter: „Schlötterlinge anhängen“ für „beleidigen“.

Eine Geschichte unter Sebis 1001 Geschichten ragt heraus. Denn zu ihr führt vieles hin und von ihr lässt sich vieles ableiten. Darin geht es um den Überfall der Landbevölkerung auf das Kloster Einsiedeln. Auslöser war der sogenannte Marchenstreit über die Rechtmäßigkeit von Grenzziehungen. Man kann es auf der Internet-Seite des Klosters Einsiedeln nachlesen: „Politische Wirren fügen dem Gotteshaus großen Schaden zu. Besonders zu erwähnen ist der sogenannte Marchenstreit mit den Landleuten von Schwyz, welcher in einem Überfall auf das Kloster und der Entführung der Mönche nach Schwyz in der Dreikönigsnacht des Jahres 1314 gipfelt.“ Das Kloster beruft sich im Roman auf Urkunden, deren Echtheit ebenda angezweifelt werden.

Was ist wahr und was ist falsch? Dieser Frage geht Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, in vielen Varianten nach. Sebi selbst ist ein kritischer Zuhörer. Er weiß: Für wahr wird auch mal das gehalten, was nichts mit den Tatsachen zu tun hat. Das ist nicht immer harmlos. Der Halbbart, dem man ein böses Gerücht angehängt hat, muss es bitter erfahren – sein halbverbranntes Gesicht ist davon ein unübersehbares Zeugnis. Nur allzu oft wollen die Zuhörer glauben, was ihnen erzählt wird. Zumal dann, wenn ihre Sache in ein strahlendes Licht gestellt wird – da nicken sogar diejenigen zustimmend, die es selbst ganz anders erlebt haben. Dass man bei der Lektüre solcher Passagen auch an das trumpisierte Amerika denken muss, liegt nahe. Das Hohe Mittelalter ist in diesen Lesemomenten nur einen Wimpernschlag von der Gegenwart entfernt.

Gegen Ende des Romans hat sich Sebi als Erzähler schon einen Namen gemacht. Deshalb wird er von Onkel Alisi zu einem Loblied gezwungen. Ein hinterhältiger Überfall auf den habsburgischen Herzog soll als Mutter aller mittelalterlichen Schlachten gepriesen werden. Wie man heute so sagt: Ein hübsches Narrativ ist erwünscht. Sebi sucht sein Heil in der unglaubwürdigen Übertreibung. Er hofft, das Publikum lache ihn aus wegen seiner hanebüchenen Heldengeschichte. Doch stattdessen bricht Jubel los. Und der Onkel ist hoch zufrieden: „Genau so ist es gewesen, genau so.“ Das Teufels-Anneli sagt: „Das war eine sehr schöne Geschichte, Eusebius. Man wird sie bestimmt noch lange erzählen, und irgendwann wird sie die Wahrheit sein.“

Die Kunst des Erzählens wird hier kritisch beleuchtet und hinreißend gewürdigt. Das ist ein Fest und eine Freude. Die Wette gilt: Kein Roman wird in diesem Jahr so viele kraftstrotzende Geschichten erzählen wie „Der Halbbart“ von Charles Lewinsky.

 

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