Kurzgeschichten
112 Seiten
Unionsverlag Zürich, 1985

Die Boulevardzeitungen erfinden auch für die langweiligsten Kleinmeldungen wunderbar anreißerische Titel. Wenn man den dazu gehörigen Artikel liest, ist man allerdings meistens enttäuscht. Da steht dann zum Beispiel „Seiz hatte plötzlich Flügel“ – und dann hat sich gar niemand in einen Engel verwandelt, sondern es ist nur ein Radrennfahrer ein bisschen schneller gefahren als sonst. Irgendwie enttäuschend, nicht?

Wie wäre es also, fragte ich mich, wenn man sich die Stories zu den Titeln selber erfinden und damit das Versprechen der Schlagzeilen einlösen würde? Ein Jahr lang pickte ich jede Woche einen viel versprechenden Titel aus dem „Sonntags-Blick“ und schrieb den entsprechenden Artikel dazu.

Das Ganze begann als ganz private Fingerübung, und ich war eigentlich selber überrascht, als der Verleger Lucien Leitess aus den besten Stories tatsächlich ein Buch machte. Den richtig fetzigen Titel lieferte natürlich auch der „Sonntags-Blick“.

Mozart-Missgriff

Alois M. setzte das Fagott an.
Die letzten Räusperer verklangen. Hinter Smokinghemden und Abendkleidern schlugen die Herzen der Abonnenten höher. Ein Kunstgenuss stand bevor. Alois M. setzte das Fagott an.
Dieser Auftritt an den Festwochen war der Höhepunkt seiner Karriere. Er war der anerkannte Meister seines Fachs. Auf dem Tisch in der Künstlergarderobe lag zwischen den Blumen eine Kritik, in der es hieß: «Bei Alois M. haben wir verstehen gelernt, was das Wort ‹Virtuose› wirklich bedeutet.»
Alois M. lächelte, als er das Fagott ansetzte.
Schon als Kind hatte Alois die Fähigkeit besessen, einem verpönten Körperteil ungewöhnliche Töne zu entlocken. Er übte im Badezimmer. Als er seiner Mutter ‹Hänschen klein› vorspielte, war sie entsetzt und bat den Kinderarzt um Rat. Alois durfte keine Schokolade mehr essen und musste jeden Tag einen Löffel Kleie schlucken. Alois mochte Kleie nicht.
Dennoch war er stolz auf seine Kunst. In den Gesangsstunden fragte er seine Lehrer aus. In der Kirche spielte er heimlich Kontrapunkt zu den Kirchenliedern. Vor allem das Flageolett hatte es ihm angetan.
Mit siebzehn war Alois M. zum ersten Mal verliebt. Er brachte seiner Angebeteten ein Ständchen im Mondschein dar. Die kleine Nachtmusik von Mozart. Sie winkte verklärt aus dem Fenster und warf ihm ein weißes Taschentuch zu, in das sie den Schlüssel zur Haustüre gewickelt hatte.
Alois M. setzte das Fagott noch einmal ab und betupfte seine Lippen mit einem weißen Taschentuch.
Im Zimmer seiner Angebeteten versuchte Alois zu erklären, was ihn künstlerisch bewegte, und weshalb er Mozart ohne Instrument interpretieren konnte. Sie verstand ihn nicht und sprach von Geschmacklosigkeit und Missgriff. Von diesem Abend an blieb Alois einsam.
Er kleidete sich mit Vorliebe schwarz. An Wirtshaustischen schrieb er ein Pamphlet mit dem Titel: «Wahre Kunst muss ganz von innen kommen». An Künstlerfesten sang er manchmal zu vorgerückter Stunde ein Lied mit dem Kehrreim: «Ich bin ein Künstler und ein Instrument».
Wahrscheinlich wäre Alois im Suff verkommen, wenn er nicht eines Tages einen Fagottisten kennen gelernt hätte. Der weihte ihn in das große Geheimnis dieses Instrumentes ein. Alois M. verstand, dass er nicht allein auf der Welt war und vergoss Tränen des Glücks.
Am nächsten Morgen leistete er die erste Anzahlung für ein Fagott. Der Musikalienhändler kniff ein Auge zu, als er das Instrument über den Ladentisch reichte.
Ein Jahr später ließ sich Alois M. bereits einen Frack schneidern und bezahlte ihn bar.
Alois M. wurde berühmt. Musikkritiker lobten vor allem die Natürlichkeit seiner Tongebung. Wenn er Mozarts Konzert für Fagott und Orchester spielte, stand das Publikum Schlange.
Beinahe hätte Alois M. vergessen, das Fagott anzusetzen.

 

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