Fortsetzungsroman
320 Seiten
Verlag Nagel & Kimche, 2009
Das war für mich ein sehr ungewöhnliches Buch: Es erschien nämlich in fünfzig Fortsetzungen in der „Weltwoche“ und musste auch in diesem wöchentlichen Rhythmus geschrieben werden. Das lässt sich gar nicht so einfach mit dem Ziel verbinden, trotz häppchenweiser Lieferung doch eine runde, in sich abgeschlossene Geschichte zu erzählen. Und: Was einmal erschienen ist, kann nachträglich nicht mehr geändert werden. Papier mag ja geduldig sein, aber gedruckt ist gedruckt. Man läuft bei dieser Arbeitsweise schon ein bisschen übers hohe Seil und kann sich keinen Fehltritt erlauben.
Eine Menge Leute fanden allerdings, schon die Tatsache, dass ich überhaupt für die „Weltwoche“ arbeite, sei ein Fehltritt. Weil doch diese Zeitschrift – wie soll man das höflich ausdrücken? – nicht gerade für ihre linksradikalen Ideen bekannt ist. Als die Serie angekündigt wurde, sang mir so mancher Kollege das Lied von den Schmuddelkindern vor, mit denen man nicht spielen soll. Diese Kritiken verstummten dann sehr bald. Denn so falsch kann ein Projekt ja nicht sein, dass es einem ermöglicht, ausgerechnet im Leibblatt der strammen Patrioten einen Roman zu veröffentlichen, der sich kritisch mit der Ausländerpolitik der SVP auseinandersetzt.
Der Mann, der da stand, trug keine Uniform, nur eine Windjacke über einem T-Shirt. Der Fahrer, wenn es auch nicht derselbe war, den er beim Ein steigen gesehen hatte. Der Mann kratzte sich am Bauch und sagte etwas in einer rauen, fremden Sprache. Es konnte „Hier sind wir“ bedeuten oder „Aussteigen“ oder ganz einfach: „Hau ab!“ Man musste die Worte nicht verstehen; die Geste war so eindeutig wie die Ungeduld.
Seine paar wenigen Habseligkeiten waren schnell ein ge sammelt. Den Mantel, der ihm zusammengerollt als Kopfkissen gedient hatte, zog er an. Damals im Auffanglager hatte er ihn sich aus einer Kleiderspende herausgesucht. Die andern hatten ihn dafür ausgelacht und Marabu genannt, denn der Mantel war zu lang, und manchmal stolperte er über den Saum. Aber er wärmte, und nur darauf kam es an. Sein einziges Reisegepäck war eine blaue Plastiktasche mit dem Logo einer Fluggesellschaft. Irgendwann einmal, das hatte er sich vorgenommen, würde er zum Flughafen gehen und einfach einsteigen. Ein steigen und nach Hause fliegen. Einen Mantel mit Pelzkragen würde er dann anhaben, und ein Angestellter würde ihm die Tasche hinterher tragen.
Irgendwann einmal.
Als er von der Ladefläche auf die Strasse sprang, knickten seine Knie ein. Er hatte sich allzu lang nicht richtig bewegen können. Der Mann schob ihn mit einer hastigen Bewegung zur Seite und verriegelte die Heck klappe wieder. Er nickte ihm nicht zu, bevor er zur Fahrerkabine zurückging, schaute ihn nicht einmal an. Aber an der nächsten Kreuzung ließ er die Bremslichter aufleuchten, und das konnte man, wenn man wollte, als Abschiedsgruss deuten.
Dann war er allein.
Das erste, was ihm auffiel: Die Strasse war so sauber. Eine andere Sauberkeit als er sie kannte. Nicht als ob gerade eine Putzkolonne um die Ecke gebogen wäre, sondern als ob hier gar niemand wohnte, als ob sich hinter den Hecken auf beiden Seiten gar keine Häuser versteckten sondern nur unbebautes Land. Oder als ob die Menschen hier gar nicht auf den Gedanken kämen, etwas wegzuwerfen. Obwohl sie doch so viel hatten. Da lag nirgends ein Papierfetzen. Keine Zigarettenpackung und keine Melonenschale. Gab es hier überhaupt Melonen? Bestimmt. Hier gab es alles, hatte Vetter Tom geschrieben. ‚Man kann hier alles kaufen’, hatte in einem Brief gestanden. ‚Man muss nur genug Geld haben’. Oft hatte er ja nicht geschrieben, oder vielleicht waren manche Briefe auch unterwegs verloren gegangen. Der Weg war weit, durch zwei Kontinente und über das Meer, und der Mann, der einmal in der Woche den Postjeep fuhr, war meistens betrunken. Aber wenn eine Nachricht gekom men war, aus dieser fremden Welt, dann hatten sie sie alle gelesen. Oder sich vorlesen lassen. Eine Nachricht aus der Schweiz. Von Vetter Tom, der mit ihm um drei Ecken verwandt war. Vetter Tom mit den goldenen Füssen. Manches hatten sie nicht verstanden, und hatten es sich ausdeuten müssen wie ein Rätsel. ‚Ich habe jetzt ein Haus’, hatte Vetter Tom einmal geschrieben. ‚Es gehört nicht mir, aber es ist doch mein eigenes.’ Darüber hatten sie lang diskutiert.
‚Es geht mir gut’, hatte in jedem Brief gestanden. Und einmal sogar: ‚So gut, wie ihr es euch überhaupt nicht vorstellen könnt.’ Als er das gelesen hatte, genau diesen Satz, da hatte er beschlossen, eines Tages auch in dieses Land zu fahren. ‚Sie sprechen hier vier Sprachen’, hatte Vetter Tom geschrieben. ‚Aber man muss sie nicht alle können.’ Vier Sprachen. Bei ihm zu Hause in Guinea waren es acht.
Es hatte das Geld der ganzen Familie gebraucht, um hierher zu kommen. Aber jetzt war er da, und das Haus von Vetter Tom musste ganz in der Nähe sein.
Die Adresse stand auf dem Zettel, der, vierfach gefaltet, in dem kleinen Lederbeutel unter seinem Pullover steckte, ein dritter Glücksbringer neben dem Stein, der ihm Kraft spenden, und der Feder, die seine Reise leicht machen sollte. Er musste das Papier nicht herausholen, um sich an den Namen der Strasse zu erinnern.
Birkenweg.
Eine Birke war ein Baum.
In dem Lager, wo er zwei Monate gewesen war, nachdem beim ersten Versuch die Küsten wache ihr Boot aufgebracht hatte, in dem Lager gab es einen Aufenthalts raum, und dort ein Regal mit einer seltsam zusammen gewürfelten Bibliothek: eine Reihe spanischer Romane, die niemand las, weil sie kein Spanisch konnten, auch wenn sie alle von der Notwendig keit träumten, es lernen zu müssen, eine viersprachige Bibel neben einem Koran, und auf dem selben Brett ein ganzer Stapel von Broschüren über Geburtenverhütung und AIDS-Ver mei dung. Sie lachten darüber, aber mit einem sehnsüchtigen Unterton, weil die Männer ja von den Frauen getrennt waren, und man sich nicht einmal hätte anstecken können, wenn man es gewollt hätte. Aber es gab da auch ein Wörterbuch und ein Lexikon, und darin hatte er die Birke gefunden, sogar mit einem Bild. Ein Baum mit einem schlanken, weissen Stamm, schwarz gefleckt. Auch die Form der Blätter hatte er sich eingeprägt, aber jetzt war Herbst und die Äste waren kahl.
Rund um die Häuser wuchsen viele Bäume, aber er konnte ihre Stämme nicht sehen, weil sie sich alle hinter Mauern und Zäunen und akkurat geschnittenen Hecken verbargen. Über den Toren starrten Überwachungsgeräte in die Nacht hinaus, wie er sie auch schon aus dem Lager kannte. Er hatte dort gelernt, dass man den Kameras am besten auswich, wenn man sich unter ihnen wegduckte, und er tat das jetzt so automatisch, wie man sich aus Höflichkeit vor einem alten Mann verneigt oder aus Vorsicht einem Polizisten den Bürgersteig frei gibt. Seine Schuhe schoben bei jedem Schritt eine kleine Bug welle aus trockenen Blättern vor sich her, und das erinnerte ihn daran, wie sie damals, beim ersten Versuch, durch das seichte Wasser gewatet waren, um zum Boot zu gelangen. Auch damals war es ihm vorgekommen, als ob seine Füsse festgehalten würden. Zweitausend Dollar hatte der Schlepper genommen, und die Lichter auf der spanischen Insel waren schon sichtbar, als die Küstenwache sie doch noch aufbrachte.
Er hörte einen Hund bellen. Es klang beleidigt, als ob man ihm etwas versprochen und das Versprechen dann nicht gehalten hätte. Eine Stimme versuchte das kläffende Tier zu beruhigen, und als das nicht gelang, wurde ein Fenster geschlossen. Dann war es wieder still zwischen den Zäunen und Hecken, so still, dass man den Wind hören konnte, und manchmal, wenn er besonders heftig blies, das Knattern der Fahnentücher.
Noch etwas fiel ihm auf: an dieser Strasse parkten keine Autos, obwohl auf beiden Seiten genügend Platz gewesen wäre. Hier fuhr wohl jeder direkt vor sein Haus und schloss hinter sich das Tor. Ein Auto war in diesem Land etwas Selbstverständliches, hatte Vetter Tom geschrieben, man war nicht reich, nur weil man eines besass oder sogar zwei. Wenn es nicht mehr fuhr, liess man es reparieren, und wenn es einem nicht mehr gefiel, kaufte man sich ein neues. Ein glückliches Land.
„Man darf hier nicht auffallen“, hatte man ihm mit auf den Weg gegeben, und so schnappte er sich den Reisigbesen, den jemand neben einem Haufen Laub hatte stehen lassen, und ging wischend weiter. So würde er nicht mehr wie ein Eindringling aussehen, war seine Überlegung, sondern wie jemand, der eine Funktion hatte, eine Arbeit, die zu seiner Hautfarbe passte. Das Mimikry schien zu funktionieren: Ein Wagen fuhr an ihm vorbei, ohne die Fahrt zu verlangsamen.
An der nächsten Kreuzung entdeckte er ein Strassenschild mit zwei Namen. Ulmenweg. Akazienweg. Aber da standen keine Akazien. Die hätte er mit oder ohne Blätter erkannt. Durstbäume hatte seine Mutter sie genannt, weil sie auch die trockensten Sommer unbeschadet überstanden.
Er ging nach rechts, weil ihm Akazien vertraut waren und er von Ulmen noch nie etwas gehört hatte. Wahrscheinlich waren auch das Bäume. Man benannte hier wohl alle Strassen nach solch starken Beschützern.
Der Birkenweg, als er ihn endlich fand, war eine Sackgasse. Links und rechts je fünf Häuser in ihren Gärten, und am Ende der Strasse die Rückseite eines Friedhofs, das einzige Grundstück mit niedriger Mauer. Das letzte Tor auf der linken Seite hatte die richtige Nummer.
Birkenweg 10.
An der Klingel stand kein Name. Auch am Briefkasten nicht. Vielleicht war Vetter Tom so berühmt, dass er das nicht brauchte. Weil jeder, der ihn besuchen wollte, wusste, wo er wohnte. Oder vielleicht… Er hatte klingeln wollen und tat es nun doch nicht.
Vielleicht…
Es war schon bald ein Jahr her, seit er sich die Adresse aufgeschrieben hatte. So lang war er jetzt schon unterwegs. Es war doch möglich, dass Vetter Tom gar nicht mehr hier wohnte, sondern jemand anderes. Jemand, der nicht lange nachfragen, sondern sofort die Polizei alar mieren würde.
Klingeln oder nicht? Er zögerte immer noch, als sich in seinem Rücken ein Auto näherte. Er musste sich nicht umdrehen um zu spüren, dass es nicht auf der Durchfahrt war, nicht nur einfach zufällig vorbeikam.
Ein Auto näherte sich. Es war deutlich zu hören, dass es immer langsamer wurde, wie auf der Suche nach etwas. Auf der Suche nach ihm? So schnell? „Hier gibt es keine Schlamperei, auf die man sich verlassen kann“, hatte man ihn gewarnt. Er drückte sich hinter die grosse Plastiktonne, die neben dem Eingang in einer Nische der Hecke stand. Die frisch geschnittenen, immergrünen Zweige stachen ihn in die Hände und ins Gesicht.
Das Auto hielt an.
Schritte.
Schritte, die sich näherten.
Der Geruch von zu lang getragenen Kleidungsstücken. Ein Geruch, den er nur allzu gut kannte. Verschwitzte Kleidung und kalter Rauch. Kein wohlhabender Geruch.
Der Mann – er konnte ihn nicht sehen, aber Frauen riechen anders – war nur noch wenige Schritte entfernt. Blieb stehen und…
„Keita“, sagte der Mann. Sagte seinen Namen. Sprach ihn falsch aus, aber etwas anderes konnte es nicht heissen. Noch keine Stunde, dass der Lastwagen ihn ausgeladen hatte, und sie wussten nicht nur, dass es ihn gab.
Sie wussten auch, wer er war.
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