Roman
384 Seiten
Verlag Nagel & Kimche, 2017

Mein erster Kriminalroman. Obwohl es eigentlich gar kein Kriminalroman ist, sondern eine Politsatire. Oder eine dystopische Beschreibung der Schweiz. Oder ein bisschen von allem.

Der „Wille“ aus dem Titel ist der schon längst schwerkranke, aber immer noch allgemein verehrte Vorsitzende einer Partei die – um es vorsichtig auszudrücken – am rechten Flügel des Politspektrums angesiedelt ist. Am sehr rechten Flügel. Die „Eidgenössischen Demokraten“ haben es sowohl in den Kantonen wie im Bund geschafft, bei den Wahlen absolute Mehrheiten zu gewinnen, und sie tun alles, um das Land nach ihren Vorstellungen umzuformen: ordentlich, konservativ und mit einer grossen Menge gegenseitiger Kontrolle. Ihr Ziel ist eine rundum saubere Schweiz – und um das zu erreichen, dürfen die Mittel schon einmal ein bisschen schmutzig sein.

Die Hauptfigur des Romans ist der längst schon abgehalfterte Journalist Kurt Weilemann, der – obwohl eigentlich schon längst in schlecht finanzierter Rente – versucht, die Umstände eines Unfalls aufzuklären, von dem er nicht glaubt, dass es ein Unfall war. Bei seinen Nachforschungen gerät er auf die Spur eines politischen Komplotts. Aber in einem gut organisierten Staat, setzt sich die Wahrheit nicht automatisch durch. Nicht wenn sie der regierenden Partei nicht in den Kram passt.

Die Auflösung des Kriminalfalls will ich hier natürlich nicht verraten. Nur so viel: Der Mörder ist definitiv nicht der Gärtner.

Übersetzungen:
Russisch

 

Manchmal nahm Weilemann den Hörer ab, obwohl es gar nicht geklingelt hatte, nur um zu überprüfen, ob da über­haupt noch ein Summton war. Es ging immer mal wieder das Gerücht, die Festan­schlüs­se sollten ganz abge­schafft werden, weil sie nicht mehr wirklich gebraucht wurden, wo doch jeder sein Handy hatte oder etwas noch Moderneres, er selber auch, es ging nicht ohne. Als damals die letzte Telefonzelle außer Betrieb genom­men worden war, da hatte er noch einen Artikel da­rüber geschrieben, nichts Besonderes, „Ende einer Ära“ und so, und der war dann nicht einmal erschienen, weil kurz vor Redak­tionsschluss die Nachricht herein­gekommen war, ein Fernseh­moderator, so ein Drei-Tage-Star mit Drei-Tage-Bart, sei gar nicht wegen einer Blind­darm­ent­zün­dung in der Klinik gewesen, sondern habe sich heimlich Fett ab­saugen lassen; da war der Platz für sein Artikelchen natürlich weg ge­wesen. „kw“ hatte sein Kürzel ge­heißen, für Kurt Weilemann, und alle, die ihn kannten, hatten ihn Kilowatt ge­nannt. Damals, als es noch Leute gab, die ihn kannten.

Das war jetzt auch schon wieder lang her. Ein alter Sack war er geworden, ein altmodischer alter Sack, er sagte das von sich selber und zwar mit einem gewissen Stolz, er war retro, so wie das Wort „retro“ auch schon selber retro geworden war, in einem Text hätten sie es ihm rausgestrichen, weil es niemand mehr verstand. Oder es wäre drin geblieben, weil sich ja heut­zu­ta­ge keiner mehr die Mühe machte, einen Artikel gegenzulesen, kaum in die Tasta­tur gehackt und schon im Internet. E-Paper – wenn er das Wort nur hörte, kam ihm die Galle hoch.

Dabei war es nicht so, dass ihn all die neuen Erfindungen überfordert hätten, überhaupt nicht, er war ja nicht verkalkt, er sah nur nicht ein, warum man sich ständig umstellen sollte, wenn die Dinge doch gut funktionierten, so wie sie waren. Da gab es diesen neuen Commis zum Bei­spiel, dieses supermoderne Gerät, das jetzt jeder haben musste, nur er hatte sich dieses Spielzeug noch nicht ein­mal angesehen. Solang man selber denken konnte, das war sein Stand­punkt, brauchte man kein solches Hilfsgehirn, aber die Werbung redete den Leuten halt ein, man sei kein vollwertiger Mensch, wenn man keines habe. Immerhin: den Begriff „Com­mu­nicator“ hatten sie mit all ihren Werbespots nicht durchdrücken können, da war das Schweizerdeutsche stärker gewesen, man sagte „Commis“, das alte Wort für einen Büro­ange­stellten, und das war auch passend, so ein Büro­gummi hatte ja auch all die tausend Dinge erledigen müssen, für die sein Chef keine Zeit hatte. Seinen Coiffeur, der ihm mit der Auf­zählung all der tollen neuen Apps auf die Nerven gegangen war, hatte er mal gefragt: „Kann man sich mit dem Ding auch rasieren?“, aber der Spruch war nicht ange­­kommen, einerseits weil nie­mand mehr Ironie verstand, und andererseits weil sich ohnehin kaum mehr jemand rasierte. Man machte das jetzt mit einer Creme, die musste man nur ein­reiben, und eine Minute später konnte man sich die Stoppeln aus dem Gesicht waschen und hatte eine Woche Ruhe. Er selber benutzte immer noch seinen elektrischen Rasierapparat, und sein Telefon zuhause hatte ein richtiges Telefon zu sein, nicht so ein Spielzeug, das man immer erst suchen musste, wenn es läutete, weil es ohne Kabel ja keinen festen Platz mehr hatte. Sein altes Swiss­com-Gerät funktionierte noch tipptopp, und selbst dieses Museumsstück konnte mehr, als er brauchte, zehn Tasten zum Ein­pro­gram­mieren von Tele­fon­nummern, wo doch Weile­mann auch mit viel Nach­den­ken keine zehn Leute zusam­men­gebracht hätte, die er hätte anrufen wollen, genau­so, wie es keine zehn Leute mehr gab, die bei ihm ange­rufen hätten. Markus meldete sich seit dem letzten großen Krach überhaupt nicht mehr, es war definitiv ein Fehler gewesen, sich mit seinem Sohn auf poli­tische Debatten einzu­lassen, Freunde hatte er nie viele ge­habt, und die Kolle­gen waren einer nach dem andern auf den Fried­hof umge­zogen. Und dass jemand Arbeit für ihn hatte, kam auch nur alle Jubel­jahre vor.

Er war in dem Alter, wo die Redaktionen nur noch anriefen, wenn wie­der einer gestorben war, und sie einen Nachruf brauchten. „Sie haben ihn doch noch ge­kannt“, sagten die jungen Schnösel dann am Telefon und hatten so wenig Sprach­gefühl, dass sie nicht merkten, wie verletzend dieses „noch“ klang. „Die andern aus deiner Generation“, hieß das, „sind schon lang durch den Rost, nur dich hat man vergessen abzuholen.“ Manchmal riefen sie nicht einmal an, sondern schickten bloß eine E-Mail, mei­stens ohne Anrede, hielten Höflichkeit wohl für eine ausge­storbene Tier­art, machten sich nicht einmal die Mühe, ganze Sätze zu schre­iben, oder hatten das verlernt, rotzten nur ein paar Stichworte in die Tastatur, den Namen des Toten und die Anzahl der Zeichen, die sie haben wollten, zwölf­hundert für eine gewöhnliche Leiche, inklusive Leerzeichen, und manch­mal noch weniger. Da hatte einer ein Leben gelebt, hatte sich abge­rackert und etwas ge­schafft, und dann gönnten sie ihm noch nicht einmal eine ganze Spalte.

Zu seiner Zeit …

Weilemann ärgerte sich immer, wenn er „zu meiner Zeit“ dachte, das war ein Zeichen von Vergreisung, und so weit war er noch lang nicht, auch wenn er sich, um seinen Fahrausweis zu behalten, schon zweimal einem Checkup hatte stellen müs­sen, eine völlig überflüssige Prozedur, einen Wagen konnte er sich schon lang nicht mehr leisten, und warum man für die die modernen Autos einen Ausweis haben musste, hatte er sowieso nie verstanden, eigentlich brauchten die überhaupt keinen Fahrer mehr, zumindest nicht in der Stadt. „Ver­kehrs­medi­zinische Kon­troll­­untersuchung“, auch so eine scheuß­liche Bürokraten­for­mulierung, aber wenn einer anständiges Deutsch schrei­ben konnte, sortierten sie ihn wahrscheinlich schon bei der Bewerbung aus, diese beamteten Analpha­beten. Er war nur aus Prinzip hin­gegangen, um sich selber zu beweisen, dass er noch voll im Schuss war, hatte sich vorher die Liste mit den Mindest­anforderungen aus dem Internet ge­fischt, und es war eine Frechheit gewesen, was da alles bestätigt werden sollte, eine aus­ge­sprochene Frechheit. „Keine Geisteskrankheiten. Keine Ner­ven­krank­heiten mit dauernder Behinder­ung. Kein Schwachsinn.“ Als ob man mit dem sieb­zig­sten Ge­burts­­tag automatisch senil würde. Er hatte die Kon­­trolle beide Male mit fliegen­­den Fahnen bestanden, nein, nicht „mit fliegen­den Fahnen“, korrigierte er die Gedankenformulierung, das war ein dum­­mes Militaristenklischee, mit Leich­tigkeit hatte er sie be­standen. Bei ihm war ja auch alles in Ordnung. Das Hüft­gelenk konnte man sich, wenn es schlim­mer werden sollte, irgendwann ersetzen lassen.

Er war noch voll da, total arbeitsfähig, aber eben, wenn sie überhaupt einmal an ihn dach­ten, dann war bestimmt jemand gestorben. Und wahrscheinlich hatte der Volontär, der dann gnädig bei ihm anrief – sie beschäftigten nur noch Volontäre, schien ihm, die gestandenen Journalisten mussten froh sein, wenn sie für die Apothekerzeitung die Vorteile gesunder Ernährung bejubeln durften –, wahrscheinlich hatte der minderjährige Agenturmeldungsabschreiber, bevor er das Telefon in die Hand nahm, noch einen Kollegen gefragt: „Lebt der über­haupt noch, dieser Weile­mann?“

Ja, er lebte noch, auch wenn man manchmal das Gefühl haben konnte, man müsse sich dafür entschuldigen, dass man noch nicht bei Exit angerufen und sich hatte entsorgen lassen. Man war kein nützliches Mitglied der Gesell­schaft mehr, nur noch eine Belastung für die AHV.

Manchmal, wenn er schlechte Laune hatte, nicht die alltägliche dunkelgraue, sondern die rabenschwarze, überlegte er sich, wen sie wohl anfragen würden, wenn sein eigener Nachruf fällig würde. Falls sie den Platz nicht für etwas Wichtigeres brauchten, die Verlobung einer Schlagersängerin oder den Seiten­sprung eines Fußballspielers. Ihm fiel dann immer nur Deren­dinger ein, der war noch der letzte von der alten Garde, Deren­dinger, mit dem er sich immer nur gefetzt hatte, am Anfang wegen ihrer politi­schen Meinungs­ver­schiedenheiten und dann später aus Gewohnheit. Derendinger würde sich ein paar freundliche Floskeln aus den Fingern saugen, so wie er es auch selber für Deren­dinger machen würde, „ein Journalist der alten Schule“ und so, zwölf­hundert Zeichen und Deckel drauf. De mortuis nil nisi bonum. „Bonum“ und nicht „bene“. Aber Latein konnte auch keiner mehr.

Man sollte sich seinen Nachruf selber schreiben dürfen, dachte Weilemann, und hatte es auch schon versucht, nur aus Jux, man wollte ja nicht aus der Übung kom­men, aber zwölfhundert Zeichen waren immer zu wenig gewesen; man hatte doch eine Menge gemacht im Lauf der Jahre. Nur schon der Fall Handschin da­mals, als er besser recherchiert hatte als die Polizei, die richtige Spur verfolgt und einen Unschul­digen aus dem Gefängnis geholt, dafür hätte man allein schon tau­send Zeichen gebraucht, mindestens. Er hatte immer ein Buch über den Fall schreiben wollen, hatte sogar die Anfrage von einem Verlag gehabt, aber damals war er zu beschäftigt gewesen, und heute, wo er Zeit zum Versauen hatte, inter­essierte sich niemand mehr dafür.

Bücher wurden ja auch gar nicht mehr gelesen, nicht auf Papier auf jeden Fall, genau so wenig wie die Leute noch Zeitungen lasen, richtige Zeitungen, die am Morgen im Milchkasten lagen, und die man dann beim ersten Espresso des Tages in aller Ruhe studierte, zuerst Politik und Wirt­schaft, dann das Lokale und ganz am Schluss, als Nachtisch, auch noch den Sport. Es gab die gedruckten Zeitungen noch, so viel Tradi­tions­­bewusstsein hatten sie, aber es legte sie niemand mehr in den Milch­kasten. Zeitungsausträger waren ausgestorben, so wie Minne­sänger ausge­stor­ben waren oder Lampen­putzer, dabei wären seit dem Krach mit Europa weiß Gott genügend Leute dage­wesen, die keine Arbeit mehr fan­den, weil sie eben nur Leute waren und keine Fachleute. Es rechnete sich nicht mehr, ein paar Abonnenten die Zeitungen ins Haus zu bringen. Wer immer noch darauf bestand, sie auf althergebrachte Weise zu lesen, musste mühselig zum Kiosk latschen, und wenn man einmal verschlafen hatte, waren sie oft schon ausverkauft. Dann musste man seine Zeitung am Bild­schirm lesen, und das war ja nun wirklich, als ob man eine Frau durch so einen hygie­nischen Mund­schutz hindurch küssen würde.

Papier, die beste Erfindung der Menschheit, verschwand immer mehr aus der Welt. Bei der ZB hatten sie doch tatsächlich ernsthaft darüber nachgedacht, neun­zig Prozent ihres Bestandes einzustampfen, weil die Bücher ja alle digitalisiert zu­gäng­lich seien; der Vorschlag war zwar abgeschmettert worden, aber es würde noch so weit kommen, davon war Weilemann überzeugt, irgendwann würde es noch so weit kommen. Ganz gut, dass man nicht mehr der Jüngste war, wenigstens das würde man nicht mehr erleben müssen.

Er selber liebte den Geruch von altem Papier, schnitt immer noch Zei­tungs­artikel aus und bewahrte sie auf, obwohl es das alles auch im Internet gab. Für die Stapel auf seinem Schreibtisch brauchte er keine elektronische Such­funk­tion, hätte auch gar keine haben wollen, damit fand man immer nur, was man ge­sucht hatte, den immer gleichen Googlehopf, und machte keine dieser zufälligen Ent­deckun­gen, die doch das Inter­essanteste waren. Und wenn es ein bisschen län­ger dauerte – à la bonheur, Zeit hatte er, viel zu viel Zeit. Die Leute sagten zwar, die Tage gingen mit jedem Lebensjahr schnel­ler vorbei, aber ihm kam es genau umge­kehrt vor; jeden Morgen ver­suchte er, noch ein bisschen länger liegen zu bleiben, um schon mal ein bisschen von der Langeweile einzusparen, die ihn erwar­tete, aber das funktionierte nicht, immer schlechter funktionierte es, in seinem Alter hätte man mehr Schlaf gebraucht und bekam immer weni­ger davon; es war schon etwas dran an dem Gerede von der präsenilen Bett­flucht.

Da müsste man mal etwas drüber schreiben, dachte er automatisch und ärgerte sich genauso automatisch darüber, dass dieser Reflex in seinem Kopf immer noch lebendig war. Er muss­te sich endlich daran gewöhnen, dass niemand mehr einen Text von ihm haben wollte, höch­stens noch einen Nachruf, und auch den nur, wenn der Verstorbene zur Cervelat-Prominenz von vorgestern gehört hatte, ach was, nicht einmal Cerve­lat, Cippolata bestenfalls, lauter ganz kleine Würstchen. Bei den interessan­ten Toten kam er nicht in die Kränze, die waren für die Chefs reserviert, die sich für Edel­federn hielten, bloß weil sie die teureren Schreib­tisch­sessel hatten. Er war sich ganz sicher, dass sie schon alle heimlich an einem Nach­ruf auf Stefan Wille herum­bastelten, bei dem es ja, nach allem, was man aus den Bulletins der Krankenhausärzte herauslesen konnte, nicht mehr lang dau­ern würde. Ein Nachruf auf Wille, das wäre eine inter­essante Aufgabe, den würde man nicht in zwölfhundert Zeichen abfertigen müssen, und er, Weilemann, würde es auch ganz anders machen, nicht so, wie sie wohl alle schon pfan­nenfertig in ihren Computern hatten, er würde auch Kriti­sches schreiben und nicht versu­chen, wie es mit Sicherheit zu erwarten stand, dem Herrn Parteipräsidenten auch noch post­hum in den Arsch zu kriechen. Aber es würde nie­mand einen Wille-Nach­ruf bei ihm bestellen, und wenn sie ihn bestellten, würden sie ihn nicht ab­drucken.

„‚Abdrucken‘ ist ein altmodisches Wort. Bald drucken sie überhaupt nicht mehr.“ Er merkte, dass er das laut ins leere Zimmer hinein gesagt hatte, und ärger­te sich über sich selber. Wenn einer anfing, Selbstgespräche zu führen, das war immer seine Über­zeugung gewesen, dann war er reif fürs Altersheim.

Das Telefon läutete dann natürlich, als er auf dem WC saß. Typisch. Aber ein Auf­trag war ein Auftrag, und seit die AHV-Ansätze zum zweiten Mal gekürzt worden waren, konnte man sich nicht leisten, einen zu verpassen. Weilemann humpelte also mit herunter­gelassener Hose ins Wohnzimmer zurück. Allein zu leben hatte auch seine Vorteile.

LUZIA STETTLER

Schweizer Krimi Düster und komisch: Lewinskys Politsatire über die Schweiz

Charles Lewinsky legt seinen ersten Krimi vor: «Der Wille des Volkes». Darin zeigt er uns eine Schweiz in naher Zukunft, die völlig nach rechts gerutscht ist. Parteifunktionäre gehen über Leichen, um ihre Macht zu sichern. Eine witzige Politsatire, bei der sich reale Vergleiche aufdrängen.

Felix Derendinger, pensionierter Journalist, stöbert in einem alten Kriminalfall und macht eine brisante Entdeckung, die das Land erschüttern würde. Nur kommt er nicht mehr rechtzeitig dazu, die Bombe platzen zu lassen: Er stirbt überraschend. Offiziell an den Folgen eines Unfalls. Aber für seinen einstigen Berufskollegen Kurt Weilemann ist klar: Derendinger wurde umgebracht.

Nun ist es an Weilemann, die Recherchen fortzusetzen. Der Schlüssel liegt beim ehemaligen Parteipräsidenten der «Eidgenössischen Demokraten», Werner Morosani, der vor mehr als 30 Jahren auf dem Heimweg ermordet worden war.

Man schob die Schuld einem schwarzen Asylbewerber in die Schuhe und schloss die Akte. Der tragische Todesfall brachte den «Eidgenössischen Demokraten» viele Sympathiestimmen. Die Partei legte kräftig zu bei darauffolgenden Wahlen. Für den politischen Ziehsohn von Morosani, Stefan Wille, wurde die Bahn frei für eine beispiellose Politkarriere. Noch heute ist Stefan Wille der wichtigste Mann bei den «Eidgenössischen Demokraten». Mittlerweile alt, krank und gebrechlich, zieht er immer noch die Fäden im Hintergrund und wird von seinen Parteigenossen verehrt wie ein Gott. Denn er ist «der Wille des Volkes».

Kein Wunder muss um jeden Preis verhindert werden, dass dieses Heiligenbild durch alte Geschichten beschmutzt wird. Also werden alle Register gezogen, um Weilemann das Handwerk zu legen.

Mit viel Witz und Humor treibt Charles Lewinsky seinen Plot vorwärts, verzichtet auf billige Pointen und schafft es, seinen Spass am Stoff auch auf die Leserinnen und Leser zu übertragen. Geschickt jongliert er mit verschiedenen Motiven, baut überraschende Indizien ein und lässt seinen Ermittler Weilemann die ungewöhnlichsten Fährten aufnehmen. Die Spuren führen tief in den Schweizer Politsumpf am rechten Flügel.

Auf die Frage, ob er absichtlich provoziere, um das Buch ins Gespräch zu bringen, winkt Charles ab. Nein, die Geschichte habe diese Zuspitzung gebraucht. Wer sich darin gespiegelt sehe, sei selber schuld. Trotzdem: Die Vergleiche mit der realen Schweizer Politlandschaft drängen sich auf. Unschwer glaubt man die SVP wieder zu erkennen mit ihrem Übervater Christoph Blocher.

Natürlich verneint Charles Lewinsky, er habe sich von diesen Vorbildern inspirieren lassen. Er verhehlt aber nicht, dass er alles andere als ein rechtskonservativer Wähler sei. Politik hält er für «ein schmutziges Geschäft», bei dem schon mancher den redlichen Weg verlassen musste, um an die Macht zu kommen. Da sei die Schweiz nicht besser als «irgendeine Bananenrepublik».

Mit «Der Wille des Volkes» hat Charles Lewinsky auf spielerische Weise dem populistischen Zeitgeist auf den Puls gefühlt. Indem er die Geschichte bewusst in die Zukunft ansiedelte, schaffte er seiner Fantasie den nötigen Freiraum.

Zum Beispiel, dass die Parteiversammlungen der «ED» im Hallenstadion live vom Fernsehen übertragen werden. Dort verkünden die «Eidgenössischen Demokraten», dass sie die Todesstrafe einführen wollen. Sie haben auch den süffigen Slogan parat: «Kurz und schmerzlos ist nicht herzlos».

Wohltuend verzichtet Charles Lewinsky auf eine klassische Schwarz-Weiss-Malerei: Bei aller Überzeichnung bekommen doch alle ihr Fett ab.

Mit Kurt Weilemann ist ihm das Porträt eines mürrischen, frustrierten Pensionärs gelungen, der durch die Jagd nach den wahren Tätern endlich wieder Adrenalin in seinen Adern spürt. Denn der Alltag auf dem Abstellgleis des Ruhestandes setzt ihm arg zu, und er lässt keinen Zweifel offen: Altern ist demütigend.

Dieses Problem kenne er zum Glück nicht, lacht Charles Lewinsky. Als Schriftsteller könne er solange weiterschreiben wie es ihm passt. Jede Arbeit an einem neuen Buch sei auch für ihn selber mit vielen Überraschungen verbunden.

Seine Lust am Fabulieren ist beim Lesen spürbar und trägt viel zum Unterhaltungswert dieses Kriminalromans bei. Zurück bleibt trotzdem auch ein mulmiges Gefühl: Was wäre, wenn Lewinskys Szenario tatsächlich eines Tages Wirklichkeit werden würde?

 

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