Roman
207 Seiten
Haffmans Verlag Zürich, 1997
Vergewaltigung ist immer gut.
In diesem Roman geht es um eine quotenmäßig dahin serbelnde Talkshow, die sich durch einen geplanten Skandal einen neuen Popularitätsschub erhofft. Drei Opfer sexueller Übergriffe sollen von ihren traumatischen Erlebnissen berichten und dann als Überraschungsgast einen maskierten Mann präsentiert bekommen, der zugibt, ein Vergewaltiger zu sein. Wenn die drei dann auf, live und ungeschnitten, auf ihn losgehen – das muss doch die Zuschauer einfach begeistern.
Der Plan scheint tatsächlich zu klappen. Nur wird leider der garantiert echte Vergewaltiger einen Tag vor der Sendung verhaftet und kann nicht auftreten. Und dabei hat man doch dem allmächtigen Programmdirektor die Sensation samt explodierender Quoten schon versprochen. Da bleibt nur eines übrig: der harmlose schwule Producer Pokorny muss sich die vorbereitete Maske aufsetzen und sich als Vergewaltiger präsentieren. Denn im Fernsehen kommt es nicht auf Wahrheit an. Wirklichkeit ist, was gesendet wird.
Alles klappt prima. Bis eine der drei Frauen eine Pistole aus der Tasche zieht…
Eine rabenschwarze Satire auf all die Talk- und Reality-Shows, in denen das Fernsehen als Gefühls-Zuhälter naive Menschen zum öffentlichen Seelen-Striptease verleitet.
Neuauflage: Goldmanns Taschenbuch „Die Talkshow“ 1999
Vergewaltigung ist immer gut.
Später, als Pokorny tot war, erinnerten sich alle an den Satz. Jeder für sich. Sie sprachen nicht darüber miteinander. Denn was passiert war, war ja nicht passiert.
„Vergewaltigung ist immer gut“, sagte Schuster.
Niemand widersprach ihm. Es war an diesen Sitzungen nicht üblich, anderer Meinung zu sein als er. Wöchentlich kündbare Anstellungsverträge dämpfen den Widerspruchsgeist. Außerdem waren sie alle seiner Meinung. Vergewaltigung ist immer gut.
Onanie ist gut. „Mein erstes Liebeserlebnis“ ist gut. Exhibitionismus ist gut. Aber Vergewaltigung ist besser.
„Wer hat das Thema recherchiert?“ fragte Schuster. Er liebte dieses Wort, weil es so journalistisch klang. „Recherchier uns doch mal einer einen Tisch bei Sandro“, pflegte er zu sagen. Oder: „Die Kleine da drüben sieht niedlich aus. Die möcht ich mal recherchieren.“
„Ich.“ Pokornys Vorschläge standen immer oben auf der Liste. Die andern gönnten ihm dieses Privileg gern. Wenn Schuster schlechte Laune hatte, war es nicht empfehlenswert, der erste zu sein. Heute hatte er gute Laune. „Dann erzähl mal, Pocki.“
Nur Schuster durfte ihn „Pocki“ nennen. Bei allen anderen bestand er darauf, „Herr Pokorny“ genannt zu werden. Justus, der Produktionsleiter, der so stolz auf seine Zeit beim ZDF war, behauptete, er hätte gar keinen Vornamen.
Pokorny und Schuster kannten sich von früher. Früher, mit einem großen F. Die Zeit, als noch keiner von ihnen beim Fernsehen gewesen war. Die vierzig Jahre in der Wüste, bevor sie das gelobte Land erreichten. Das Land des goldenen Kalbes, wo Milch und Honig und fette Honorare fließen.
Am Theater hatten sie sich kennen gelernt. „Als ich noch am Theater war“, sagte Schuster gerne in Interviews und ließ es klingen wie Hamlet in Berlin. Es war nur Güldenstern in Detmold gewesen, mit Pokorny als Rosenkrantz. Ein Naturbursche und ein Charakterspieler.
Eine Spielzeit lang teilten sie eine Wohnung. Man hielt sie für ein Paar, aber das waren sie nicht. Schuster interessierte sich schon damals nur für Frauen. Aber sie ergänzten sich und waren des öfteren glorios miteinander besoffen. Das verbindet. Dann wurde Pokornys Vertrag verlängert, während sich Schuster auf die Reise von Vorsprechen zu Vorsprechen machte. Er war dabei nicht erfolgreich. Der Güldenstern ist keine Paraderolle.
Schließlich landete er in München, als Untermieter eines Kollegen, der als Synchronsprecher gut verdiente. Auch Schuster hielt sich damit über Wasser. Er sprach den Kellner, bei dem Sharon Stone einen Champagner bestellte, und den Taxifahrer, der von Charles Bronson kein Trinkgeld bekam. Ein halbes Jahr lang stöhnte er stellvertretend in Rammelstreifen. „Als ich noch beim Film war“, sagte Schuster gerne in Interviews.
Dann war die Stelle beim Hörfunk gekommen, und später die Chance beim Fernsehen. Seither war Schuster ein Star und Früher war Früher. Mit einem großen F.
In Detmold wechselte der Intendant, und der neue brachte seinen eigenen Charakterspieler mit. Pokorny hatte zunächst noch einen Gastvertrag, und dann nur noch Schulden. Trotzdem hatte er Schusters Angebot zuerst abgelehnt.
„Es ist lieb von dir, wirklich. Gut gemeint. Aber es ist doch ein Job hinter den Kulissen, und ich brauche das Publikum. Das geile Gefühl, wenn alle Augen auf dich gerichtet sind, und du weißt: Du hast sie in der Hand. Sie tanzen nach deiner Pfeife.“
Schuster erzählte ihm dann einen Witz. Den von dem alten Mann, der im Zirkus hinter den Elefanten herläuft, um ihre Scheiße aufzusammeln. „Warum suchst du dir nicht einen anderen Job?“ wird er gefragt. Und antwortet: „Was? Und das Showbusiness aufgeben?“
„Atemberaubend komisch.“ Pokorny betonte jeden Konsonanten so prägnant, dass man ihn noch im dritten Rang verstanden hätte. Wenn denn ein Zuschauerraum da gewesen wäre.
„Aber vor allem brauche ich einen Menschen“, sagte Schuster. „Jemanden, der mich versteht. Der weiss, was in einem Künstler vorgeht. Ich bin von lauter Automaten umgeben. Seelenlos.“ Das Wort gefiel ihm so gut, dass er es wiederholte. „See-len-los.“
So waren sie zusammengekommen. Schuster und sein Pocki. Plisch und Plum.
Schuster nickte Pokorny zu und steckte sich eine Zigarette in den Mund. Er liebte es, wenn seine Mitarbeiter darum wetteiferten, ihm Feuer zu geben. Wie meistens war Barbara am schnellsten, eine nicht mehr ganz junge Redaktionsassistentin. Sie hatte ein kleines Kind zuhause und war auf den Job angewiesen. Schuster schenkte ihr ein Lächeln, das sie so dankbar entgegennahm wie eine Gehaltserhöhung. Pokorny räusperte sich.
Das Ritual lief immer gleich ab. Einer nach dem anderen apportierte seine Arbeitsergebnisse und hoffte, dass Schuster eine erfolgreiche Nacht gehabt hatte. Wenn er allein hatte schlafen müssen, war seine Laune mies. Dann wischte er Ideen einfach vom Tisch. Nur ganz Mutige wagten es, den selben Vorschlag ein paar Wochen später noch einmal anzubringen.
Pokorny erinnerte sich noch gut an die allererste Geschichte, die er recherchiert hatte. „Ich betrüge meinen Partner“ war das Thema gewesen. Er hatte sich damals nicht vorstellen können, dass sich jemand auf den Aufruf melden würde. Schließlich ging es darum, vor laufender Kamera einen Fehltritt zu gestehen. Aber dann war diese Frau gekommen. Ihren ersten Satz hatte er zunächst gar nicht verstanden.
„Willy kriegt keinen mehr hoch“, sagte die Frau. Es klang so selbstverständlich wie „Guten Tag.“
„Wie bitte?“
„Mein Mann. Willy. Herr Schuster soll mich fragen, warum ich ihn betrüge, und dann antworte ich: ‚Willy kriegt keinen mehr hoch.’“
„Wirklich ?“
„Schon seit mehr als einem Jahr.“
„Nein, ich meine: so was würden Sie wirklich sagen?“
„Natürlich.“ Die Frau sah ihn verwundert an. „So ist das doch in dieser Sendung.“
In der Sendung selber war sie dann so aufgeregt, dass ihr der Name ihres Mannes nicht einfiel. Willy, der im Publikum saß, war sehr böse darüber. Er hatte sich so darauf gefreut, auch einmal im Fernsehen vorzukommen.
Die Frau war kein guter Gast gewesen. Zu schrill und zu kamerageil. Eine Fehlbesetzung. Heute würde das Pokorny nicht mehr passieren. Er hatte eine Menge gelernt.
„Ich weiss, wir haben Vergewaltigung schon zweimal gemacht“, sagte er.
„Dreimal.“ Justus, der Produktionsleiter, mit seinen ewigen Strichlisten. „Bei den andern war es auch überall schon.“
Die andern. Hans Meiser. Bärbel Schäfer. Arabella Kiesbauer. Ilona Christen. Pfarrer Fliege. Und und und. Es wird viel getalkt im deutschen Fernsehen.
„Trotzdem. Man muss den Leuten geben, was die Leute wollen.“
Die Leute waren nicht mehr zufrieden mit „Mein Nachbar schikaniert mich“. Bei „Lottogewinner und trotzdem unglücklich“ griffen sie zur Fernbedienung. An „Hilfe, mein Busen ist zu groß“ interessierten sie nur die Bilder. Sie wollten Menschen sehen, die sich verbal auszogen. Nackt.
„Und ich glaube, ich kriege gute Gäste zusammen.“
Pokornys Besetzungen waren die besten. Zuerst hatte ihn gestört, dass ihm wildfremde Menschen von ihren prügelnden Vätern erzählten („Ich kann ihm nie verzeihen“) oder von ihren Problemen mit Körpergeruch („Werde ich immer einsam bleiben?“). Irgendwann hatte er begriffen, dass es jedes Mal darum ging, ein Ensemble zusammenzustellen. Für einen Ibsen oder einen Kroetz. Manchmal nur für einen Feydeau. Je nach Thema. Ein Vorsprechen. Intendant Pokorny sitzt im dunkeln Zuschauerraum und macht sich Notizen. Don’t call us, we’ll call you.
„Die Vorauswahl nach dem Aufruf ist viel versprechend. Ein paar ganz interessante Frauen dabei. Ich kann schon heute nachmittag mit den Interviews anfangen.“
Pokorny konnte gut mit Frauen. Sie spürten, dass er über ihre Geschichte hinaus nichts von ihnen wollte, und vertrauten ihm. Und er war ein guter Zuhörer. „Schau den andern so an, als ob dich wirklich interessiert, was er sagt!“ Dafür war man auf der Schauspielschule gewesen. Pokorny wirkte überzeugend interessiert. Er nickte. Hielt den Kopf schräg. Lächelte. In seinen Augen schimmerten Tränen des Mitgefühls.
„Wenn ich grünes Licht habe.“
„Okay“, sagte Schuster. „Das Thema ist gebongt. Vergewaltigung. Was haben wir als nächstes?“
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