Roman
396 Seiten
Verlag Nagel & Kimche, 2016

In der Regel dreht sich eine Idee jahrelang in meinem Kopf, bis ich mich endlich daran mache, sie als Buch aufzuschreiben. Mit dieser Geschichte war es anders. Sie war eines Tages einfach da. Zumindest der Ausgangspunkt war mir von einem Moment auf den andern in allen Einzelheiten klar, und ich machte mich fast noch am selben Tag auf die Entdeckungsreise nach den weiteren Entwicklungen. Ich hoffe, die Neugier, die ich dabei empfand, überträgt sich auch auf die Leser. Die Chancen dafür dürften nicht schlecht stehen. Denn wie sagte Stephen King so richtig? „Wenn du nicht weisst, was als nächstes passiert, hast du eine gute Chance, dass es der Leser auch nicht erraten kann.“

„Andersen“ ist die Geschichte eines Mannes, der eines Tages erwacht und nicht weiss, wo er ist. Er weiß nur, dass er, um seinen Häschern zu entkommen, vorgeben muss, der Melker Andersen zu sein. Doch der Krieg ist längst vorbei, und er beginnt zu ahnen, dass seine Umgebung komplett anders ist als angenommen. Wie überhaupt nichts so ist, wie er es geplant hatte. Und dabei ist er doch gerade im Planen der Zukunft meisterhaft.

Ich würde es schade finden, hier mehr vom Inhalt des Buches zu verraten. Meinem Verleger habe ich das fertige Manuskript in die Hand gedrückt, ohne ihm vorher auch nur ein Wort über die Geschichte zu erzählen. Seine Reaktion hat mir gezeigt, dass das die ideale Art ist, diesen Roman zu lesen.

Übersetzungen
Russisch
Holländisch

Dunkel.
Nicht das kalte, fugenlose Dunkel einer Zelle. Eine warme Dunkelheit.
Ich weiß nicht, wo ich bin.

Ich kann mich nicht bewegen. Obwohl ich keine Fesseln spüre. Keine Binde vor den Augen. Gar nichts spüre ich. Blind und taub. Nur einen leichten Druck auf der Haut kann ich ausmachen, nicht einmal unangenehm. Eine Ahnung von Wellen.

Ich will einen Arm bewegen, und es ist, als ob der Befehl dort gar nicht ankäme. Als ob ich gar keinen Arm hätte.
Ich weiß, dass ich zwei Arme habe. Nur eine Hand, aber zwei Arme. Warum spüre ich sie nicht?

Einerseits: Ich bin bei Bewusstsein.
Andererseits: Mein Körper gehorcht mir nicht.
Ich weiß nicht, wie lang diese Situation schon andauert. Da ist nichts, an dem sich die Zeit messen ließe. Wie lang bin ich schon hier?

Wo ist „hier“?

Hat mich eine Kugel getroffen? Wir sind im Krieg.
Aber ich habe keine Schmerzen. Es wäre unlogisch anzunehmen, dass ich eine Verwundung nicht spüren würde. Schmerzen sind die einzige Konstante, auf die man sich verlassen kann.
Oder ist diese Empfindungslosigkeit ein Symptom? Wovon?
Unsere Wissenschaftler, ich habe mich da immer auf dem Laufenden gehalten, forschen für die Verwundeten in den Lazaretten an Mitteln, die vollständig unempfindlich machen. Vielleicht hat man mich mit so etwas betäubt.
Aber könnte ich dann so klar denken?
Es passt nicht zusammen.
Ich weiß nicht einmal, ob ich liege. Oder stehe. Oder schwebe. Auch dafür ist mir das Gefühl abhandengekommen.

Ich bin müde. Zumindest eine Empfindung, die ich klar erkennen kann.

Müde.

Ich habe eine Minute geschlafen. Eine Woche. Bin aufgewacht mit der Erkenntnis, dass ich mich in Gefangenschaft befinden muss.
Die Möglichkeit, dass sie mich fassen, war nie ganz auszuschließen. Als ich Andersen wurde, beschloss, Andersen zu werden, waren sie nur noch zehn Kilometer entfernt. Ich war vorbereitet, perfekt gefälschte Papiere und eine perfekt ausgedachte Lebensgeschichte. Ich habe an alles gedacht.
Man muss immer vorausdenken.
Schon damals, als ich mir die linke Hand doch noch abschneiden lassen musste, so viele Jahre nach der Schussverletzung, so viele Jahre Schmerzen, schon damals habe ich auch diese Möglichkeit in Betracht gezogen. Habe dafür gesorgt, dass niemand von der Amputation erfuhr. In keiner Akte über mich, egal, wer sie angelegt hat, steht etwas davon. Dass ich immer Handschuhe trug, passte zu meinem Gewerbe. Wenn sie mich suchen, suchen sie einen Mann mit zwei Händen.
Andersen hat nur eine.
Trotzdem muss ich in ihrem Netz hängen geblieben sein. Auch wenn ich mich nicht erinnern kann, wie es passiert ist.
Vom Vorher weiß ich alles. Vom Nachher weiß ich nichts.
Meine Erinnerung ist abgesägt, eine scharfe Kante und dann nichts mehr. Da ist noch nicht einmal eine Lücke, die einem doch immerhin sagen würde: Hier war einmal etwas. Hier wurde ein Baum niedergewalzt, ein Haus in die Luft gesprengt. Wo das Nichts die Spur von etwas wäre.
Nicht einmal eine leere Stelle.
Ich gehe aus der Tür, eine braune Cordhose habe ich an und klobige Schuhe, die mir zu groß sind. Es hat sie mir einer geschenkt, habe ich mir ausgedacht, als ich bei ihm um ein Stück Brot bettelte. Es hatte einer Mitleid mit mir, habe ich mir ausgedacht. Mein Mantel riecht muffig, als ob er lang in einer Kiste gelegen hätte oder auf einem Dachboden. Auch daran habe ich gedacht. Auf den kurzgeschorenen Haaren trage ich eine Kappe. Ohne Schirm, so wie Bauern sie sich aufsetzen, um den Kopf beim Melken an die Flanke der Kuh lehnen zu können. Ein Beutel an einer Schnur um den Hals gehängt, darin meine Papiere. Ich weiß den Namen, den ich mir in die Papiere geschrieben habe. Ich weiß alles.
Andersen.
Ich habe beschlossen, Andersen zu sein.
Ich bin Andersen, und ich gehe aus der Tür.

Und dann: nichts.

 

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