Von all den literarischen Formen, in denen ich mich versucht habe, hat mir das Schreiben von Glossen immer besonderes Vergnügen bereitet. Es macht einfach Spass, einen Gedanken oder eine Idee pointiert zu formulieren und sie – etwas anderes bedeutet «pointiert» ja nicht – exakt auf den Punkt zu bringen. Und wenn man dabei auch einmal über die Stränge der Sprache oder der Logik schlagen darf, umso besser.

Im Lauf der Jahre habe ich für vier verschiedene Zeitschriften als Glossenschreiber (Glossist? Glosseur?) gearbeitet, für manche nur kurz, für andere über Jahre. Beim Wiederlesen der alten Texte habe ich mich manchmal gefreut und manchmal diskret weitergeblättert. Damit Sie sich mit mir erinnern können, hier aus jeder der Serien je zwei Beispiele.

 


 

Meine erste eigene Kolumne hatte ich in der schweizer Kulturzeitschrift «Musik und Theater»,
die damals von meinem leider verstorbenen Freund Roger Cahn geleitet wurde.

 


 

 

Der Distanzierer

Mein Freund Anton – ein besonders lieber Freund und der einzige, mit dem ich noch nie Krach hatte, was daran liegen mag, dass ich ihn gerade eben für diese Glosse erfunden habe – mein Freund Anton also ist jetzt auch zum Theater gegangen. Er erzählte es mir beim Essen und war sehr stolz drauf. (Ich lade mit Vorliebe erfundene Freunde zum Essen ein. Sie haben exzellente Manieren und erzählen immer nur das, was einen wirklich interessiert. Ausserdem ist es billiger.)

«Ja, ich bin jetzt auch beim Theater», sagte mein Freund Anton und hatte vor Stolz fast vergessen, dass es ihn gar nicht gibt. «Ich habe soeben einen Zweijahres-Vertrag unterschrieben. Als Distanzierer.»

«Als was, bitte?» fragte ich.

«Du weisst nicht, was ein Distanzierer ist?» Mein Freund Anton konnte es nicht fassen. «Ja, liest du denn den Kulturteil der Zeitungen nicht?» Er schob mir ein paar Ausschnitte über den Tisch, und die Meldungen, die ich da las, sind – im Gegensatz zu meinem Freund Anton – nicht erfunden:

Im Opernhaus Zürich wandte sich die Star-Sopranistin Ileana Cotrubas nach einer Aufführung von «La Traviata» an das Publikum, um sich von der Inszenierung und dem kargen Bühnenbild zu distanzieren.

Am Zürcher Schauspielhaus distanzierte sich der Schauspieler Markus Habermann schon vor der Premiere der «Lustigen Weiber von Windsor» von der ganzen Produktion (in der er selber gar nicht mitwirkte), kündigte einen öffentlichen Protest an und wurde fristlos entlassen.

Mein Freund Anton hatte noch ein ganzes Bündel ähnlicher Meldungen in seiner Sammlung, aber er liess sie mich nicht mehr lesen. Er wollte mir unbedingt erklären, was er als professioneller Distanzierer zu tun habe.

«In der letzten Zeit haben sich so viele Theaterleute von so vielen Inszenierungen öffentlich distanziert, dass der fortschrittliche Zuschauer das unterdessen einfach erwartet. Nach Vorstellungen ohne Distanzierung verlangen manche Leute an der Kasse schon ihr Geld zurück. Andere wieder – konservative Spiesser wird es immer geben – fühlen sich durch solche Aktionen in ihrem Kunstgenuss gestört. Ich als Distanzierer habe dafür zu sorgen, dass beide Gruppen auf ihre Rechnung kommen.

«Du meinst…?» fragte ich.

«Genau», antwortete Anton. (Das ist ein weiterer Vorteil erfundener Freunde: man weiss immer genau, was sie meinen.) «Genau, ich baue die Distanzierungen in die Stücke ein.» «Geht denn das?»

«Das geht sogar ausgezeichnet. Ich kenne Stücke, die werden überhaupt erst erträglich, wenn man sich pausenlos von ihnen distanziert. Aber auch die alten Werke profitieren eine Menge. Stell dir zum Beispiel vor: ein Schwank von Arnold und Bach. Der Hauptdarsteller wendet sich im zweiten Akt an die Zuschauer und sagt: ‹Ich möchte mich von der nun folgenden Geschmacklosigkeit in aller Form distanzieren! – und dann rutscht ihm die Hose! Oder ein Romeo, der sich vor der grossen Liebesszene von seiner Julia distanziert, weil die vor der Vorstellung Knoblauch gegessen hat. Oder…»

Mein Freund Anton hätte noch lange weitergeredet, aber ich brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Das ist auch ein Vorteil erfundener Freunde: Sie halten auf Kommando den Mund. Und man kann sich jederzeit von ihnen distanzieren.

 


Baltiswil

Kennen Sie Baltiswil? Nein? Da haben Sie aber etwas verpasst. Denn in jedem Sommer, wenn überall die Festspiele, Festivals und Festwochen beginnen, findet in Baltiswil ein ganz besonderes Ereignis statt.

Kulturfreunde aus der ganzen Welt, eine verschworene Gemeinschaft, pilgern dann dorthin, und die wenigen Gästezimmer im «Raben» sind immer schon ein Jahr vorher ausgebucht. Denn in diesem kleinen Ort kann man etwas erleben, das man anderswo in Europa kaum mehr antrifft.

Sie kennen Baltiswil wirklich nicht? Ich will versuchen, es Ihnen zu beschreiben.

Da wäre natürlich zuerst einmal die alte Stiftskirche. Sie ist barock, aber nicht sehr, und ihre Orgel tönt wirklich sehr schön, auch wenn sie nicht gerade von Silbermann ist. Die Stiftskirche ist eine der Hauptattraktionen, denn hier findet in den Sommermonaten kein Orgelkonzert statt. Toccaten und Fugen sind unbekannt; Herr Hablützel, der Organist, wischt sich jedes Mal erleichtert den Schweiss von der Stirne, wenn er bei einem Kirchenlied wieder mal gleichzeitig mit der Gemeinde fertig geworden ist.

Dann ist da auch noch – weit ab vom störenden Strassenverkehr – die romantische Burgruine aus dem 15.Jahrhundert, mit ihrem Innenhof, der geradezu nach einem «Götz von Berlichingen» schreit. Er schreit vergeblich. Die perfekte Akustik der efeubewachsenen Mauern wird nur von summenden Mücken und flüsternden Liebespaaren genutzt. Wo das Steuerpult für die Scheinwerfer stehen müsste, hat eine Amsel im wilden Wein ihr Nest gebaut.

Bei den Baltiswil-Fans besonders beliebt ist der Keller des Rathauses. Wie verzaubert gehen sie die ausgetretenen Stufen hinunter, fast andächtig hören sie das Quietschen der seit Jahren nicht geölten Türe, auf Zehenspitzen betreten sie das Gewölbe, wo alljährlich im Sommer keine Chansons aus den Zwanziger Jahren gesungen, keine Monodramen von Beckett und Cocteau rezitiert, keine Dichterlesungen veranstaltet und keine Collagen (mit anschliessender Diskussion) über die Stellung der Frau in unserer Gesellschaft präsentiert werden. Wenn sie grosses Glück haben, treffen sie sogar Herrn Furrer an, den Abwart. Er bastelt manchmal an einem alten Seitenwagen-Motorrad, das er wieder fahrtüchtig machen möchte.

Übrigens: Die Chronik von Baltiswil weist auch einen berühmten Sohn auf. Er hiess Adalbert Nepomuk Baltensweiler, war ein Zeitgenosse Telemanns und schrieb jede Menge Kammermusik. Die Manuskripte seiner Hauptwerke, wie etwa des ganz bezaubernden Quartetts in D-Dur für zwei Querflöten, Blockflöte, Fagott und Basso continuo, liegen im Archiv des Ortes. Jedes Jahr, wenn wieder die schönen warmen Abende locken, verzichtet man darauf, sie dort herauszuholen und zur Aufführung zu bringen.

Zu den regelmässigen Sommergästen von Baltiswil gehört auch ein berühmter Konzertpianist. Er führt alljährlich keine Meisterkurse durch, übergibt keine Anerkennungspreise an vielversprechende Nachwuchstalente, und besteht darauf, in diesem Bericht anonym zu bleiben. Ich darf Ihnen deshalb auch nicht verraten, wo Baltiswil liegt. Obwohl Sie sicher schon begierig sind, dort hinzufahren. Tut mir leid.

Man muss sich das vorstellen: ein Ort ganz und gar ohne Festspiele. Ohne Musikwochen. Ohne Freilichtaufführungen. Ohne Festival. Ohne Bach-, Mozart- oder Schubertfest. Eine streichquartettfreie Zone mitten in Europa. Sowas gibt es wirklich bald nur noch in Baltiswil.

 


 

Die Fernsehzeitschrift «TELE» hat mich damals wohl vor allem deshalb als Kolumnisten gebucht, weil man sich von mir so eine Art «Fascht e Familie» in Glossenform erhoffte. Aber jedes Genre hat seine eigenen Gesetze, und eine Sitcom mit ihrem pausenlosen Pointengeknalle funktioniert nun mal nach anderen Regeln als ein Zeitschriftenartikel.

Die einzige Vorgabe war damals, dass jede Kolumne etwas mit einer Fernsehsendung zu tun haben sollte, und ich habe diese Regel für mich sehr, aber schon wirklich seeehr frei ausgelegt…

 


Lob des Kakapo

Ich habe ihn noch nie gesehen und bin doch sein Fan. Jedes Mal, wenn im Fernsehen ein Tierfilm läuft, warte ich auf ihn. Aber dann zeigen sie wieder nur sprintende Geparden, springende Delfine und andere Meister ihres tierischen Fachs. Und nie ihn, von dem ich schwärme, seit ich zum ersten Mal von ihm gelesen habe. Nie, nie zeigen sie mir den Kakapo!

Wer das ist? Ein ziemlich fetter Vogel, der das Fliegen schon vor Millionen Jahren verlernt hat und seither zu Fuss durch die neuseeländischen Wälder watschelt. Aber – und das sichert ihm meine Bewunderung – der Kakapo hat nie zur Kenntnis genommen, dass er nicht mehr fliegen kann. Immer wieder stürzt er sich von einem Baum, schlägt mit den viel zu kleinen Flügelchen und klatscht mit voller Wucht auf den Boden. Dann rappelt er sich auf, watschelt davon und stürzt sich bei der nächsten Gelegenheit vom nächsten Baum. 

Er ist fest davon überzeugt, etwas zu können, das er nicht kann, und kommt nie auf den Gedanken, den Versuch aufzugeben, nur weil er bisher jedes Mal gescheitert ist. Das macht ihn, möchte ich vorschlagen, zum idealen Wappentier der Hobbykünstler, zur perfekten Symbolfigur aller Möchtegern-Maler, Flohwalzer-Pianisten und Liebe-auf-Triebe-Reimer dieser Welt.

Denn, seien wir ehrlich, was verbindet uns Alltagskünstler mit dem Pegasus, der sich noch nicht einmal anstrengen muss, um mit souveränem Flügelschlag zum Parnass emporzuschweben? Überlassen wir ihn den Mozarts, den Shakespeares, den Picassos, vor deren Türen sich die kussbereiten Musen drängeln, während sie in unsere Ateliers, Studierstübchen und Musikstudios trotz empfangsbereit geöffneten Fenstern einfach nicht hereinflattern wollen.

Wir anderen wollen den Kakapo loben, der nicht aufgibt, wenn ihm der Höhenflug misslingt, der nicht liegen bleibt, wenn er auf den Schnabel fällt, der auf den nächsten Baum klettert und auf den übernächsten, der nie den Traum aufgibt, es eines Tags den Adlern gleichzutun und schwerelos, mühelos, sorgenlos durch die Lüfte zu schweben. Wir wollen ihn ehren, den Kakapo, wir wollen ihn preisen in stolpernden Versen, wollen sein Lob singen in gutgemeinten Dissonanzen, wollen sein Bild auf unsere Fahnen batiken, in Patchwork-Teppiche nähen, aus Makramé flechten, wir wollen ihm die Opfergaben darbringen, die sein Herz erfreuen, aus Wurzeln geschnitzte Gesichter und aus Zigarettenpackungen geklebte Papierkörbe, er soll uns ein Vorbild sein für alle Zeiten, denn er mag pummelig sein und ungeschickt, und die andern Vögel Neuseelands mögen ihn auslachen, wenn er immer aufs Neue auf den Waldboden kracht, aber er hat den Drang zum Höheren, und ohne diesen Drang wäre die Welt ärmer, es gäbe keine dramatischen Vereine und keine Tanzgruppe der Damenriege, beim nächsten Familienfest bliebe das Gedicht über Onkel Eduard ungeschrieben, und niemand würde schwarze Tränen auf weisse Clownsgesichter malen und wäre gerührt von so viel selbstgeschaffener Schönheit.

Ich bewundere den Kakapo, weil er uns kleinen Künstlern vormacht, dass der Traum vom Fliegen-Können ebenso wichtig ist wie die Fähigkeit dazu, weil er sich nicht entmutigen lässt vom Vergleich mit den Begnadeten, weil er immer wieder auf den Baum klettert, die Stummelflügelchen ausbreitet und ins Leere springt.

Für einen Moment, für den glücklichen Bruchteil einer Sekunde, fliegt er dann tatsächlich, bevor er wieder auf dem Bauch landet. Und dieser eine Moment, das lehrt uns der Kakapo, ist all die blauen Flecken wert.

Also bitte, liebe Tierfilmer, zeigt mir bald einen Film über ihn!

 


Jauch, Jauch und Jauch

Wenn den Redaktoren der Wissenschaftsmagazine partout keine Themen mehr einfallen, dann laden sie gerne ein paar kluge Leute ins Studio ein und lassen die darüber streiten, ob man das Klonen von Menschen erlauben solle. Da meint dann der eine, Klonen sei doch etwas Wunderbares; er zumindest könne sich nichts Schöneres vorstellen als eine Welt, in der man eine Miss Schweiz nicht nur auf der Bühne oder im Fernsehen betrachten, sondern sie, im Labor multipliziert, beim Sonntagsspaziergang antreffen könne. Dann mahnt sein Gegenspieler mit düsterer Miene, dass man nicht nur einseitig die positiven Seiten sehen dürfe; es gäbe da schliesslich auch Gefahren. Wenn man die neue Technik zuliesse, würden am Ende nicht nur schöne Frauen, sondern auch ganz andere Lebewesen vervielfacht, und was der andere wohl sagen würde, wenn ihm an jeder Ecke ein Ueli Maurer begegnete. Und dann streiten sie sich, bis die Sendezeit um ist, und kommen zu keinem Ergebnis.

Dabei ist die ganze Debatte völlig überflüssig. Das Thema ist gegessen, die Entscheidung längst gefallen. Es werden nämlich bereits fleissig Menschen geklont. Oder doch zumindest ein Mensch. Er heisst Günther Jauch.

Sie können in diesem Heft nachlesen, was er alles macht, und in wie vielen Fernseh-Sendungen er auftaucht. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass meine recherchierenden Kollegen, von einer geschickten Kampagne abgelenkt, die eigentliche Sensation gar nicht entdeckt haben. Auch sie sind auf die Legende reingefallen, der Mann sei einfach sagenhaft fleissig. Die Wirklichkeit ist eine andere: Irgendwo in einer gut versteckten Fabrik läuft alle paar Minuten ein neuer Günther Jauch vom Fliessband. Anders lassen sich die Tatsachen nicht erklären.

Und das sind die Tatsachen: an ungefähr neun Abenden pro Woche – so kommt es einem wenigstens vor – steht «Wer wird Millionär» im Programm. Und jedes Mal sitzt dort ein Günther Jauch vor seinem Monitor, bläst die Backen auf wie das bestdressierte Meerschweinchen der Welt und versucht dämonisch auszusehen, wenn er seine  Kandidaten fragt, ob der auch ganz, ganz sicher sei, dass es sich beim Protestantismus um eine Religion handle und nicht um die Sitte, sich in der Kneipe gegenseitig zuzuprosten.

Ein zweiter Jauch wird in «Stern TV» eingesetzt. Ein dritter in der „SKL-Show“. Ein vierter reportiert Skispringen. Ein fünfter wandert durch die Spots für das Krombacher Umweltprojekt «Saufen für den Regenwald». Und und und. Der Zeitpunkt ist nicht fern, wo alle Sendungen auf allen Kanälen von einem Jauch-Klon präsentiert werden.

Und der schlagendste aller Beweise: jede einzelne dieser Jauch-Kopien ist absolut fehlerfrei. Keine Versprecher, keine Pannen, keine Geschmacklosigkeiten. Immer Ia-Moderations-Qualität, chemisch rein und garantiert ohne schädliche Zusatzstoffe. Bei so viel Perfektion muss doch ganz einfach jemand an den Genen herumgebastelt haben.

Oder will man mir tatsächlich erzählen, dass so was ohne Klonen funktioniert? Dass da nicht irgendwo in einem geheimen Labor ein verrückter Professor ständig neue Jauch-Doubles aus der Retorte holt? Vielleicht inspiriert von seiner Frau, die immer zu ihm gesagt hat: «Dieser Jauch ist der perfekte Schwiegersohn; davon müsste es viel mehr geben.»

Übrigens: der Professor gibt nicht gern zu, dass er Genforscher ist. Seine Nachbarn meinen alle, er sei Bauer. Wenn man ihn fragt, was er beruflich so treibe, antwortet er mit harmlosem Lächeln: «Ich? Ich mache Jauche.»

 


 

Bei meiner recht kurzen Tätigkeit bei der «Weltwoche» (die damals noch mehr war als das Sprachrohr der rechtsbürgerlichen SVP) hiess die Vorgabe: «Die grossen Themen behandeln wir, schreiben Sie über Nebensächlichkeiten!» Und das habe ich dann auch mit grossem Vergnügen getan. Es liegt ein besonderer handwerklicher Reiz darin, eine winzige Beobachtung zu einem Geschichtchen aufzublasen, gewissermassen ein sprachliches Soufflé zu produzieren und zu hoffen, dass es bei der Lektüre nicht in sich zusammenfällt.

Die beiden Beispiele, die ich ausgesucht habe, würden jeden Deutschlehrer zu dem tadelnden Ausruf inspiriert haben: «Schüler Lewinsky treibt mal wieder Nebendinge.»

 


Schwan, liegend

Im Schaufenster eines jener Läden, die von der Faszination alles Exotischen profitieren, um überteuerten Kitsch an den Westler zu bringen, sah ich letzthin ein Schwein. Lang hingestreckt lag es da, erschöpft und aus Terrakotta. Und auf dem dazugehörigen handgeschriebenen Preisschild stand: «Schwan, liegend».

Nun liesse sich natürlich einfach erklären, wie es zu diesem Verschreiber gekommen ist. Der Inhaber des Chinaladens, so könnte man sich vorstellen, ist ein vielbeschäftigter Mann, er hat ein ganzes Dutzend Chinaläden und dazu eine Kette von Pornoshops, er ist dauernd im Stress und schreibt auch mal aus Überforderung einen Vibrator mit «Echt Ming-Dynastie» an; seine Preisschilder, so könnte man sich das vorstellen, diktiert er am Handy, auf der Fahrt von Chinaladen vier zu Pornoshop neun, und wenn die Verbindung schlecht ist, so könnte man sich vorstellen, versteht seine Sekretärin schon mal «Schwan», obwohl ihr Chef doch laut und deutlich «Schwein» gebrüllt hat.

Aber ich stelle mir viel lieber etwas anderes vor.

Ich stelle mir vor, dass das liegende Schwein keine Massenware ist, sondern das liebevoll gestaltete Alterswerk eines greisen Terrakottameisters. Und dass es nicht einfach ein gewöhnliches Schwein ist, sondern die tragische Hauptfigur einer Sage aus der grossen Zeit der Kulturrevolution.

In der Provin Hü-Tsi, so wird berichtet, im Dorfe Wo-Wan, da lebte einmal ein Bauer, der hatte drei Schweine. Das erste hiess Tsching, das zweite hiess Tschang, das dritte aber hiess Tschaikowski, denn der Bauer – das sind die Segnungen des Sozialismus – besass ein Radio und hörte bei der Arbeit gerne Musik.

Er hatte das Schwein ganz zufällig Tschaikowski genannt, weil auf Peking 1 gerade ‹Schwanensee› lief, als er den Ferkeln ihre Namen gab. Das Schwein namens Tschaikowski glaubte aber nicht an einen Zufall, sondern fühlte sich zu Höherem berufen, bewarb sich bei der Ballettakademie in Peking und wurde – im Sozialismus bekommt jeder seine Chance – auch aufgenommen.

Es war keine leichte Zeit. Man hätte noch darüber hinweggesehen, dass es bei den Entrechats über seine langen Ohren zu stolpern pflegte, und auch die Tatsache, dass ihm bei Pirouetten immer das Ringelschwänzchen aus dem Trikot rutschte, war durchaus zu verzeihen. Nur in einem Punkt ist man an der Ballettakademie von Peking unerbittlich: Ballerinen haben schlank zu sein. Und Tschaikowski war –  im Sozialismus muss niemand hungern – doch eher unschlank. Sagen wir: rundlich. Na schön, sagen wir: fett.

Und als die Eleven der Ballettakademie als Abschlussaufführung  ‹Schwanensee› planten, und sich alle vor dem schwarzen Brett drängten, um ihre Rollen zu erfahren, da fand sich Tschaikowski nicht als Schwan auf dem Besetzungszettel, sondern war nur als Pausenimbiss (Schweinefleisch süss-sauer) vorgesehen.

Da rannte das Schwein Tschaikowski davon und blieb nicht stehen bis es wieder im Dorfe Wo-Wan in der Provinz Hü-Tsi angekommen war. Dort lebt es, wenn es nicht gestorben ist, immer noch in seinem Stall, zusammen mit Tsching und mit Tschang, ist ein Schwein wie alle anderen Schweine, und nur nachts, wenn es traurig und einsam auf seiner Spreu liegt, hört man es leise flüstern: «Ich bin ein Schwan. Ich bin ein Schwan.»

‹Schwan, liegend› kostet übrigens 99 Franken 90.

 


Das Schnegg-Dilemma

Sie denken, Sie hätten es schwer? Sie meinen, Sie hätten Probleme? Glauben Sie mir, was immer Sie auch plagt, es kann nicht so schlimm sein wie das Dilemma, vor dem Hansueli Schnegg steht. Ich habe seine Geschichte in der NZZ am Sonntag gelesen, und mir ist wieder mal klar geworden: es gibt Menschen, unbesungene Helden des eidgenössischen Alltags, die müssen sich mit viel schlimmeren Schwierigkeiten herumschlagen als wir gewöhnlichen Sterblichen. Lesen Sie weiter und Sie werden mir zustimmen: das ist eine Geschichte von antiker Grösse, ein menschlicher Zwiespalt, der nach Euripides schreit, um in seiner vollen Tragik beschrieben zu werden.

(Das muss man sich übrigens plastisch vorstellen: Ein Zwiespalt steht auf der Strasse und schreit: «Euripides!!!» Aber das nur nebenbei.)

Wo war ich? Ach ja, antike Grösse. Verglichen mit dem Dilemma, mit dem sich Hansueli Schnegg konfrontiert sieht, hatte es Herkules am Scheidewege nicht schwerer als ein Orientierungsläufer angesichts einer unklaren Höhenlinie.

Die Sache ist die: Herr Schnegg ist Obmann des Fahnenschwingerverbandes, und Fahnenschwinger sind Männer. Prinzipiell und ausnahmslos. Und das nicht etwa, weil im Fahnenschwinger-Verband der Machismo regierte. Im Gegenteil. Hansueli Schnegg würde sich über fahnenschwingende Damen sogar ausgesprochen freuen. Der Verband braucht Nachwuchs. Aber eben: «Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stossen sich die Sachen.» Die Sachen, die sich in diesem Falle stossen sind a) die Fahne und b) die Röcke. Fahnen werden nämlich auch zwischen den Beinen durch geschwungen, und das geht rein technisch nicht, wenn da ein paar Meter Trachtenrock-Stoff im Wege ist. Und die müssen im Wege sein, denn wer keine Tracht trägt, kann nicht fahnenschwingen. Das steht so im Reglement. Er kann vielleicht eine Stange mit einem bunten Tuch daran mehr oder weniger artistisch durch die Luft bugsieren – aber mit Fahnenschwingen hat das dann nichts zu tun. Keine Tracht – kein Fahnenschwingen.  Und es muss – auch das gehört zum Schnegg-Dilemma – eine stilechte Tracht sein, korrekt bis ins letzte Detail, nicht einfach so ein Fantasiekostüm, wie es sich Volksmusik-Imitatoren für die entsprechenden Wettbewerbe schneidern lassen. Steht alles im Reglement. Eine Tracht muss da sein, und auf der Fahne muss das Schweizer oder ein Kantons-Wappen prangen. Nichts anderes. Sonst käme am Ende noch irgendeine Brauerei auf die Idee, zum nächsten Jodelfest Wettkampfgeräte mit Werbeaufdruck zu sponsern, und auf denen stünde dann vielleicht: «Mit unserem Bier haben Sie die schönste Fahne.»

Tracht ist Pflicht. Und Frauentrachten haben nun mal keine Hosen. Das ist, mit der unerbittlichen Wucht eines antiken Götterspruchs, die Basis des unlösbaren Schnegg-Dilemmas: Frauen in Tracht dürfen zwar fahnenschwingen, können es aber nicht; Frauen ohne Tracht können zwar, dürfen aber nicht. Hart im Raume stossen sich die Sachen. Friedrich Schiller muss an den Fahnenschwinger-Verband gedacht haben, als er diese Zeile schrieb.

Also, wenn Sie mal wieder meinen, Sie hätten es schwer, dann trösten Sie sich mit der Gewissheit: Hansueli Schnegg hat es schwerer. Verglichen mit seinem Problem war Ödipus doch bestenfalls ein Muttersöhnchen. Und nach dem wurde ein eigener Komplex benannt. So ungerecht ist die Welt.

 


 

Die längste Glossenreihe entstand für «Bücher am Sonntag», der Literaturbeilage der «NZZ am Sonntag». Von der allerersten Ausgabe an habe ich mehr als elf Jahre lang jeden Monat meinen Beitrag geliefert, und wenn man sich seine Aufträge nach dem eigenen Vergnügen aussuchen könnte, würde ich wohl immer noch weiter liefern.

Die Artikelchen drehten sich um Aspekte der Literatur, und sie waren alle nach demselben Prinzip konstruiert: Anstelle eines Titels stand da immer ein Zitat aus der Feder eines mehr oder weniger berühmten Autors, und über das habe ich dann improvisiert.

Es war nicht einfach, aus den weit über hundert Texten zwei Beispiele auszusuchen. Deshalb können Sie hier noch ein bisschen 

weiterschmökern

 


Lieber Herr Reich-Ranicki

Die meisten Schriftsteller verstehen von der Literatur nicht mehr als die Vögel von der Ornithologie.

Marcel Reich-Ranicki

Piep, piep, piep, grosser Meister. Sie haben natürlich vollkommen Recht, wie immer. Piep. Wir Vögel sind ornithologische Analphabeten. Und sind mit dieser unserer Ahnungslosigkeit auch noch ganz zufrieden. Piep.

Aber nehmen Sie’s uns nicht übel: Wer möchte schon Ornithologe werden, wenn er Vogel sein kann?

Natürlich: Ornithologen sind klug und weise, sie wissen mehr über uns Vögel als wir selber, verwechseln nie einen Grünspecht mit einem Goldspecht und können im Schlaf aufzählen, was die Rotrücken- von der Grauflankenmeise unterscheidet. Wenn sie eine neue Unterart entdecken, geben sie ihr sogar den eigenen Namen. Ornithologen, wir geben es gerne zu, sind zweifellos die Krone der Schöpfung.

Aber sie können nicht fliegen.

Wann haben Sie zum letzten Mal einen Ornithologen hoch am Himmel kreisen sehen, vom Wind getragen und doch Herr des Windes? Welcher Ornithologe findet den Weg nach Afrika nur nach seinem inneren Kompass? Wie viele Ornithologen haben auf einem Telefondraht Platz?

Wir gestehen es ein, zwitschernd und krähend und kreischend: Ornithologen sind tausendmal klüger als wir. Sie wissen sogar, wie wir auf Lateinisch heissen. Obwohl wir gar kein Latein können. Piep.

Aber die Eier, die sie so stolz ausbrüten, haben wir gelegt. Das Gefieder, mit dem sie Rad schlagen, besteht aus unseren Federn. Sie wissen alles über uns oder glauben doch, alles zu wissen, aber wie es ist, die Flügel auszubreiten und in die Luft zu steigen, bis zu den Wolken, das werden sie nie erfahren. Sie wissen nicht, wie ein Wurm schmeckt, wenn man ihn aus der Erde zieht, weich und fett und saftig, und sie haben keine Ahnung, wie sich der Hunger anfühlt, wenn die Erde ausgetrocknet ist und weit und breit kein Wurm zu finden.

Ornithologen tun uns leid.

Sie stellen Regeln auf, wie man richtig zu fliegen hat, und bleiben doch selber auf dem Boden. Sie plustern sich auf und können doch mit dem bescheidensten Sperling nicht mithalten. Sie katalogisieren Gesänge ohne singen zu können. Nur weil einer den Schnabel aufreisst, ist er noch lang keine Nachtigall.

Manchmal fangen sie einen Vogel ein und beringen ihn, und dann meinen sie, er gehöre ihnen.

Ornithologen meinen, Vögel seien zum Ausstopfen da.

Wir möchten keine Ornithologen sein. Piep.

 


Die Kunst des Kürzens

Jesus, es gibt nur eine Kunst: das Weglassen! O, wenn ich nur das Weglassen beherrschte, ich würde sonst nichts wissen wollen.

Robert Louis Stevenson

Man sollte keine Bücher schreiben, die absichtlich komplizierte Sätze enthalten, an denen der Autor an seinem Schreibtisch viel zu lang herumgebastelt hat, und die voll mit aus einem eigens erworbenen Wörterbuch gepflückten Formulierungen sind, die er nur verwendet, um den Kritikern zu zeigen, wie gebildet er doch ist.

Man sollte keine Bücher schreiben, die absichtlich komplizierte Sätze enthalten, an denen der Autor an seinem Schreibtisch viel zu lang herumgebastelt hat, und die voll mit aus einem Wörterbuch gepflückten Formulierungen sind, die er nur verwendet, um den Kritikern zu zeigen, wie gebildet er doch ist.

Man sollte keine Bücher schreiben, die absichtlich komplizierte Sätze enthalten, an denen der Autor viel zu lang herumgebastelt hat, und die voll mit aus dem Wörterbuch gepflückten Formulierungen sind, die er nur verwendet, um den Kritikern zu zeigen, wie gebildet er doch ist.

Man sollte keine Bücher schreiben, die absichtlich komplizierte Sätze enthalten, an denen der Autor viel zu lang herumgebastelt hat, und die voll mit Formulierungen sind, die er nur verwendet, um den Kritikern zu zeigen, wie gebildet er doch ist.

Man sollte keine Bücher schreiben, die absichtlich komplizierte Sätze enthalten, an denen der Autor lang herumgebastelt hat, und die voll mit Formulierungen sind, die er nur verwendet, um den Kritikern zu zeigen, wie gebildet er doch ist.

Man sollte keine Bücher schreiben, die absichtlich komplizierte Sätze enthalten, an denen der Autor lang herumgebastelt hat, und die voll mit Formulierungen sind, die er nur verwendet, um zu zeigen, wie gebildet er doch ist.

Man sollte keine Bücher schreiben, die absichtlich komplizierte Sätze enthalten, an denen der Autor lang herumgebastelt hat, um zu zeigen, wie gebildet er doch ist.

Man sollte keine Bücher schreiben, die komplizierte Sätze enthalten, an denen der Autor herumgebastelt hat, um zu zeigen, wie gebildet er doch ist.

Man sollte keine Bücher schreiben, die absichtlich komplizierte Sätze enthalten, an denen der Autor herumgebastelt hat.

Man sollte keine Bücher schreiben, die absichtlich komplizierte Sätze enthalten.

Man sollte keine Bücher schreiben, die komplizierte Sätze enthalten.

Man sollte keine Bücher schreiben.

Man sollte.