Glosse des Monats Januar 2014

Ich hasse die bleierne Einförmigkeit dieser kleinen Umfragen: Wen würden Sie zu einem idealen Abendessen einladen, welches Buch hat Ihr Leben verändert, welchem fiktionalen Charakter gleichen Sie am meisten?

Hilary Mantel

Als eines Tages ein Journalist den alten Herrn Geheimrat Goethe fragte, was denn dessen liebste Süssigkeit sei, da antwortete der Dichterfürst: „Ulrike von Levetzow“.

Nein, die Geschichte stimmt natürlich nicht. Aber es ist schon so: Wenn Journalisten gar nichts mehr einfällt, dann fällt ihnen eine Umfrage ein. Und wenn sie keine Miss Schweiz, keinen Skifahrer und keine Society-Lady mehr auf ihrer Adressliste haben, dann befragen sie auch mal Schriftsteller.

Dann soll Adolf Muschg darüber Auskunft geben, wann er zum ersten Mal eine Frau geküsst hat, Peter Bichsel soll verraten, ob er weiche Eier lieber köpft oder mit dem Löffel aufklopft, und von Peter Stamm wollen sie wissen, ob er Boxer-Shorts trägt oder eventuell doch Feinripp mit Eingriff.

„Weil das nämlich unsere Leser interessiert“, sagen sie dann am Telefon.

Ich weiß nicht…

Weil ich mir einen Menschen, der sich für Adolf Muschgs Teenager-Erlebnisse, Peter Bichsels Eieröffnungstechnik und Peter Stamms Unterhosen interessiert, nicht als Leser vorstellen kann, sondern nur als Analphabeten. Von Lesern habe ich eine bessere Meinung. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sich ein Zeitungskonsument für solche inhaltleeren Pseudo-Infor­mati­onen tatsächlich interessieren könnte. Noch nicht einmal wenn er zu den Leuten gehört, die an „20 Minuten“ tatsächlich zwanzig Minuten lang etwas zu lesen finden.

Und selbst wenn – würde er solche Belanglosigkeiten ausgerechnet von einem Schriftsteller hören wollen, dessen Bücher er ja doch nicht liest, weil das Studium der aktuellen Umfragen seine tägliche Lesezeit völlig ausfüllt?

Nein, verehrte Zeitungsspalten-Füller, es gibt genügend andere Leute, die nichts Wichtigeres kennen, als den eigenen Namen in der Zeitung zu lesen. Die glauben, jeden Pups ihrer Verdauung in maximal 140 Zeichen in die Welt hinaustwittern zu müssen. Die immer schon eine Hand am Telefon haben, für den Fall, dass ein Journalist bei ihnen anruft und wissen will, ob sie auf dem Bauch oder auf dem Rücken schlafen.

Ruft also für eure Umfragen bei denen an, liebe Trivial-Journalis­ten. Ihr macht sie glücklich damit. Und streicht unsere Namen aus eurem Adressverzeichnis. Ein für alle Mal. Vielen Dank.

Übrigens: Ich trage Boxer-Shorts und klopfe weiche Eier mit dem Löffel auf.

Erschienen in »Bücher am Sonntag« vom 26. Januar 2014,
Literaturbeilage der »NZZ am Sonntag«

 


 

Glosse des Monats Februar 2014

Wir finden nur die verständig, die unserer Meinung sind.
François de La Rochefoucauld 

Was Kritiken anbelangt, sind wir Autoren keine anspruchsvollen Leute. Ganz und gar nicht. Mit ein paar simplen, sachbezogenen Adjektiven wie „epochal“, „genial“ oder „einmalig“ sind wir schon zufrieden. Auch Formulierungen wie „unvergängliches Meisterwerk“ oder „ein Muss für jeden wahren Literaturkenner“ werden gern genommen. Und wenn dann noch ein paar Vergleiche mit Balzac oder Heine darüber gestreut werden, ziehen wir uns mit der Kritik ganz bescheiden in unsere spartanische Dichterklause zurück und können uns einen ganzen Winter lang davon ernähren. Wobei wir höchstens noch überlegen, ob es statt „Heine“ nicht doch besser hätte „Goethe“ heissen müssen. (Oder „Shakespeare“. Wir sind da nicht so.)

Aber leider gibt es auch unprofessionelle Rezensenten. Künstlerisch unbedarfte Schreiberlinge, die mit dem hohen geistigen Anspruch unserer Texte überfordert sind. Die beim Versuch, dem Höhenflug unserer Gedanken zu folgen, abstürzen sind wie einst Ikarus. Die nicht davor zurückschrecken in ihren Rezensionen so unanständige und politisch unkorrekte Worte wie „unnötige Längen“ oder „abgestandene Metaphern“ zu verwenden. Und dadurch potentielle Bücherkäufer abschrecken und um ihren Genuss bringen.

Natürlich lesen wir Autoren (genau wie Schauspieler) eigentlich überhaupt keine Kritiken. Da stehen wir drüber. Aber es kommt doch ab und zu, ganz ungewollt und zufällig, vor, dass uns so ein journalistisches Machwerk auf den Schreibtisch flattert. Und wir dann irritiert feststellen müssen, dass darin selbst die selbstverständlichsten Epitheta ornantia wie „fesselnd“ oder „unvergleichlich“ einfach fehlen.

Nicht dass uns das persönlich etwas ausmachen würde. Uns doch nicht. Wir Autoren sind, wie gesagt, in diesem Punkt überhaupt nicht anspruchsvoll. Ganz und gar nicht. Aber eine Zeitung hat doch – insbesondere im Feuilleton – auch eine Verpflichtung gegenüber ihren Lesern, und die haben einen Anspruch darauf, korrekt informiert zu werden. Und da unsere Werke nun mal allesamt musengeküsste Höhepunkte der Weltliteratur sind…

Ein Vorschlag zur Güte: Man sollte Autoren ihre eigenen Rezensionen schreiben lassen. Schliesslich kennen wir unsere Bücher am besten. Und wären deshalb in der Lage, sie vorurteilsfrei und sachlich als das zu beschreiben, was sie nun mal sind: Lauter unsterbliche Meisterwerke. Erschienen in »Bücher am Sonntag« vom 23. Februar 2014,
Literaturbeilage der »NZZ am Sonntag«

 


 

Glosse des Monats März

Was Ihnen fehlt, um ein wirklicher Dichter zu werden, ist das Erlebnis! Erleben Sie etwas!
August Wilhelm von Schlegel 

Hatte Schlegel recht? Sind es wirklich die eigenen Erlebnisse, die einen zum Dichter machen? Oder stimmt doch eher der Satz aus Patrick Süskinds Drehbuch zu „Rossini“? Dort ruft ein Autor, den seine Angebetete endlich erhören will, abwehrend aus: „Ich will nichts erleben! Ich bin Schriftsteller!“

Im Fall des Autors, an den Schlegel seine Worte richtete, hat der gutgemeinte Ratschlag auf jeden Fall nicht funktioniert. Der Adressat war ein gewisser Heinrich Wilhelm Stieglitz, der sich zum Dichter berufen fühlte, obwohl ihm zu diesem Beruf zwei wichtige Voraussetzungen fehlten: Er hatte erstens kein Talent und zweitens keine Einfälle. Was ihn selbstverständlich – es wäre auch das erste Mal in der Literaturgeschichte gewesen – nicht daran hinderte, ein Buch nach dem andern zu verfassen.

Es war damals die große Zeit der Romantik und so fühlte sich Stieglitz‘ Frau Charlotte, die ihren Mann über alles liebte, dazu berufen, ihm jenes Erlebnis zu verschaffen, das ihm so offensichtlich zum dichterischen Durchbruch fehlte: Sie brachte sich selber um. „Wir haben einander geliebt; so wird der Schmerz über meinen Tod Dich zum Dichter machen“, steht in ihrem Abschiedsbrief.

Es hat nicht funktioniert. Stieglitz wurde auch als Witwer nicht kreativer, und seine Werke verstauben heute zu Recht in den Bibliotheken.

Nein, weder Tragödien noch Abenteuer machen einen zum Dichter. (Auch wenn Hemingway das sicher heftig bestritten hätte.) Wenn es so wäre, müsste Felix Baumgartner, der aus neununddreissig Kilometer Höhe mit einem Fallschirm zur Erde sprang, schon lang alle Literaturpreise dieser Welt abgeräumt haben. Und an den eisigen Abhängen des Mount Everest würden sich die Bestsellerautoren gegenseitig auf die Füße treten. Wenn wirklich Erlebnisse den Dichter machten, dürfte nicht der Nobelpreis die höchste literarische Auszeichnung sein, sondern eine Trophäe von Red Bull. Samt Gratislieferung des modischen Zuckerwassers bis zum Lebensende.

Ich meine: Umgekehrt wird ein Schuh draus. Nicht das Erleben macht den Dichter, sondern es ist die Weltsicht und Sprachmächtigkeit des Dichters, der aus Geschehnissen – seien sie nun alltäglich oder ungewöhnlich – jene Erlebnisse macht, deren Beschreibung wegen wir an keiner Buchhandlung vorbei gehen können. Wo wir dann nicht die Bücher von Heinrich Wilhelm Stieglitz kaufen.

Erschienen in »Bücher am Sonntag« vom 30. März 2014,
Literaturbeilage der »NZZ am Sonntag«

 


 

Glosse des Monats April

So wie man nach den verschiedensten Dingen süchtig werden kann, sei es Briefmarkensammeln oder Glücksspiel oder Heroin, kann man auch nach dem Schreiben süchtig werden.
Jon Fosse 

Einer nach dem andern schlurften sie herein.

Als erster, seiner Zeit wie immer voraus, erschien der avantgardistische Lyriker. Er wäre gern ganz aussen gesessen, denn nur am Rand der Gesellschaft sah er seinen Platz, doch die Stühle standen im Kreis. Vor ihnen waren die Anonymen Alkoholikern dran gewesen.

Als nächster kam der Essayist, die Hände tief in den Taschen seines Samtjacketts vergraben. In der letzten Nacht hatte er einen Rückfall gehabt, und die Spuren des Kugelschreibers hatten sich nicht ganz entfernen lassen.

Die Lyrikerin hatte ein Buch mitgebracht (kein eigenes natürlich, das war in dieser Runde nicht erlaubt) und las noch im Gehen zum zehnten Mal denselben Abschnitt. Seit sie das Schreiben aufgegeben hatte, konnte sie sich einfach nicht mehr konzentrieren.

Der Romancier kam, der Epiker und auch der Mann, der so stolz darauf war, dass seine Literatur nirgendwo einzuordnen war. (Die Literatur, die er früher mal geschrieben hatte, selbstverständlich, denn inzwischen war er clean. Die meiste Zeit clean.)

Die Luft im Versammlungsraum des Gemeinschafts­zentrums war stickig, und das verblichene Theaterplakat an der Wand warb für eine Inszenierung, die schon lang nicht mehr auf dem Spielplan stand. Der Kaffee aus der ausgeleierten Filtermaschine schmeckte nach Löschpapier. Löschpapier, mit dem jemand die Tinte einer Kurzgeschichte getrocknet hatte, eines Essays, eines Einakters, eines…

Nein, an solche Sachen durften sie nicht einmal denken. Der Kaffee schmeckte, wie abgestandener Kaffee eben schmeckt, basta. Metaphern, das wusste jeder von ihnen, waren der erste Schritt zum Rückfall.

Der Versammlungsleiter war ein ehemaliger Krimiautor. Seit sieben Jahren hatte er kein Wort mehr geschrieben, und sie bewunderten ihn alle sehr dafür. Nicht jeder hatte die Stärke, den Entzug von der Sucht so konsequent durchzuhalten.

„Wer möchte als erster etwas sagen?“, fragte der Versammlungsleiter.

Der Essayist erhob sich mit blassem, schuldbewusstem Gesicht. Ganz langsam zog er die rechte Hand aus der Tasche und spreizte die Finger, so dass die andern die Kugelschreiberflecken nicht übersehen konnten. Ein Raunen ging durch den Raum. Nein, kein Raunen. Ein Stöhnen.

„Mein Name ist Wilhelm“, sagte der Essayist. Seine Stimme zitterte. „Mein Name ist Wilhelm und ich bin Schriftsteller.“

Erschienen in »Bücher am Sonntag« vom 27. April 2014,
Literaturbeilage der »NZZ am Sonntag«

 


 

Glosse des Monats Mai

Ich hatte früher mal den Grössenwahn, bis ich an ein Variété kam, wo ein dressierter Affe besser gefiel als ich.
Otto Reutter 

Auch die Literatur kennt ihre dressierten Affen. Sie beherrschen meist nur ein einziges Kunststück und führen das unter dem Applaus des Publikums immer wieder vor. Schlagen in jeder Vorstellung den gleichen Salto, machen den gleichen Handstand oder stopfen sich die gleiche Banane quer in den Mund. Mit anderen Worten; Sie schreiben immer wieder das gleiche Buch.

Es gibt diese literarischen Variétéartisten nicht nur als Verfasser von Groschenheften, in denen der immer gleiche Chefarzt die immer gleiche Krankenschwester unter dem immer gleichen Fliederbusch küsst. Nein, sie blasen ihre Zirkustrompeten auch in durchaus ernsthaften Genres.

Da gibt es zum Beispiel den Empörungs-Schimpansen, der Jahr für Jahr einen neuen Missstand unserer Gesellschaft aufdeckt und dem verehrten Leser unter heftigem Weltverbesserungsgetrommle mitteilt, dass es nur aus einem Punkte zu kurieren sei. Wobei dieser Punkt nicht halb so wichtig ist, wie das angenehme Gefühl, dass die Lektüre jedes Mal wieder vermittelt: Wer dieses Buch liest (und das nächste und das übernächste), der hat etwas für die Verbesserung der Welt getan, ohne sie wirklich verändern zu müssen.

Es gibt den Esoterik-Gibbon, der sich mit langen Armen durch den Klischee-Urwald hangelt, um dort exotische Worthülsenfrüchte zu pflücken und daraus den marktgängigen Buddhismus-Aufguss zu destillieren, einmal rosa und dann wieder himmelblau, so dass der geneigte Leser nicht merkt, dass hier immer das gleiche Süppchen gekocht wird.

Der Kapuzineraffe – oft ist es eine Kapuzineräffin – flicht aus den Lianen des Urwalds kunstvolle Verwicklungen und lässt Verliebte sich darin verfangen, bis die beiden schließlich, während die Sonne hinter dem Affenbrotbaum langsam im Meer versinkt, auf die allerletzte Kokosnuss doch noch miteinander glücklich werden.

Und so weiter quer durch Brehms Tierleben,

Jeder dieser Affen hat sein eigenes Kunststück. Und jeder hat seine treuen Kunden, die sich im Literaturvariété nur ansehen wollen, was sie sich schon einmal angesehen haben. Da weiß man doch, was man hat. Und mit den Programmheften füllen sie dann zuhause ihre Bücherregale…

Ich sehe nur ein einziges Problem: In jeder Vorstellung das gleiche Kunststück – das muss doch furchtbar eintönig sein für die armen Viecher. Warum unternimmt der Tierschutzverein da nichts?

Erschienen in »Bücher am Sonntag« vom 25. Mai 2014,
Literaturbeilage der »NZZ am Sonntag«

 


 

Glosse des Monats Juni

Um Tolstoi abzuwandeln: Die glücklichen Leser sind auf ganz verschiedene Weise glücklich, aber die unglücklichen Leser, so scheint es, sind alle in derselben Weise unglücklich.
John le Carré 

Ach, Herr Doktor, es geht mir heute wieder so schlecht.

Ich weiss, ich sollte die Diagnose Ihnen überlassen, aber ich bin ganz sicher, es ist diese postlektorale Depression. Es ging mir gut, bis ich dieses Buch gelesen habe, und seither…

Könnte ich bitte ein Kleenex haben? Danke. Sie müssen schon entschuldigen, aber es gibt nun mal Bücher, die sind einfach zum Heulen.

„Dann lesen Sie doch einfach nicht!“ Sie haben gut reden. Ein Mensch, der keine Bücher liest und das auch noch zugibt, so ein Mensch ist für seine Umwelt so lästig wie ein aggressiver Vegetarier an einer Grillparty. In meinen Kreisen muss man die neusten Neuerscheinungen kennen, sonst ist man gesellschaftlich erledigt. Da kann man gleich braune Schuhe zum Smoking anziehen oder zugeben, dass man sich in einer Marthaler-Inszenierung gelangweilt hat. Und ich lese ja auch gern. Immer noch. Nur hinterher bin ich dann meistens so unglücklich.

Noch ein Kleenex, bitte.

Meine Eltern? Was haben meine Eltern…? Ah, Sie meinen: Von wegen frühkindlichem literarischem Trauma?

Globi-Bücher vor allem. Die durfte ich nach dem Lesen dann immer ausmalen. Ich glaube, es gibt eine Menge Bücher, die man besser vertragen würde, wenn man sie nur ausmalen dürfte, statt sie lesen zu müssen.

Nein, Sie haben natürlich Recht. Es ist nicht nach jedem Buch so. Letzthin habe ich einen Krimi gelesen, da ging es mir hinterher blendend. Wirklich. Stellen Sie sich vor: Der Mörder hatte die Leiche in der Tiefkühltruhe… Da muss man erst einmal darauf kommen.

Dann soll ich halt mehr Krimis lesen? Ich lese keine Krimis, Herr Doktor. Höchstens „Der Name der Rose“. Diesen einen auch nur rein zufällig, weil ihn jemand im Zug hatte liegen lassen. Das ist doch keine Literatur! Oder haben Sie schon einmal gehört, dass man im „Literaturclub“ über Kriminalromane…? Über Heidegger redet man da.

Ja, natürlich, die „Schwarzen Hefte“ habe ich auch gelesen. Und war hinterher wieder total… Gibt es da wirklich kein Mittel dagegen?

Sie haben eins? Das wäre wunderbar. Aber sagen Sie jetzt nicht: „Einfach nicht lesen.“ Zumindest über die Bücher aus dem „Literaturclub“ will ich mitreden können.

Die Heidenreich-Methode? Nein, die kenne ich nicht. Wie geht die?

Man kann auch aus Büchern zitieren, die man nicht gelesen hat?

Herr Doktor, Sie sind ein Genie!

Erschienen in »Bücher am Sonntag« vom 29. Juni 2014,
Literaturbeilage der »NZZ am Sonntag«

 


 

Glosse des Monats Juli/August

Wenn ich einen Roman beendet habe, komme ich mir vor wie ein Haus, nachdem die Möbelpacker den Konzertflügel hinausgetragen haben.
Vladimir Nabokov 

Das Haus ist leer.

Auf dem Parkett – vielleicht ist es auch Linoleum, denn es gibt Linoleum- und Parkettbücher –, auf dem Boden, den man einmal mit so viel Mühe gelegt hat, sind dort, wo all die Jahre der schwere Flügel stand, nur noch die Dellen zu sehen, und man weiss: Die werden zurückbleiben, auch wenn man einen Teppich darüber legt und das Haus ganz neu einrichtet, für eine neue Geschichte. ‚Da war doch diese eine Saite‘, erinnert man sich, ‚die habe ich nie ganz sauber stimmen können, so oft ich es auch versuchte‘. Und man ärgert sich und denkt: ‚Ich hätte es noch einmal probieren müssen, vielleicht hätte ich es doch noch hingekriegt.“ Aber es ist zu spät. Der Flügel ist nicht mehr da, und man fragt sich: ‚Wenn jetzt ein anderer darauf spielt – wird er den unsauberen Ton bemerken?‘

Das Haus ist leer.

Es riecht noch ein bisschen nach den alten Bewohnern, aber auch das wird nicht mehr lang so sein. Auf der Tapete, die man damals mit so viel Sorgfalt ausgesucht hat, erinnern nur noch helle Flecken an die Bilder, die dort hingen, die Vorfahren und Vorbilder der ausgezogenen Bewohner, und manchmal auch ein Spiegel, in dem sie sich ganz anders gesehen haben, als sie in Wirklichkeit waren. Aber jetzt wohnt niemand mehr hier, sie sind weggefahren mit ihrem Konzertflügel und all den anderen Einrichtungsgegenständen, und haben auch die Noten mitgenommen, nach denen sie so lang musiziert haben. Irgendwann, das weiss man aus Erfahrung, wird man die kahlen Wände neu tapezieren, aber noch kann man es sich nicht vorstellen.

Das Haus ist leer.

Manchmal, mitten in der Nacht, hört man ein Geräusch, und dann schreckt man aus dem Schlaf und denkt, sie wären wieder da, man könne das Gespräch doch noch fortsetzen, das aufgehört hat ohne wirklich zu Ende zu sein. Aber dann ist es nur ein Ideenvogel, der sich verflogen hat und sich den Kopf an den Wänden wundschlägt. Bis er dann endlich einen Ausgang findet und davonflattert, vielleicht für immer.

Und die Leute fragen einen: „Wer wird denn als nächstes bei Ihnen einziehen?“ Man weiss keine Antwort, denn man kann es sich nicht vorstellen, dass man das Haus jemals wieder neu einrichten könnte, für andere Bewohner.

Die dann auch, manchmal nach vielen Jahren, wieder ausziehen und ihren Konzertflügel mitnehmen.

Das Haus ist leer.

Erschienen in »Bücher am Sonntag« vom 31. August 2014,
Literaturbeilage der »NZZ am Sonntag«

 


 

Glosse des Monats September

Die klimatischen Bedingungen in der Hölle sind sicherlich unerfreulich, aber die Gesellschaft dort wäre von Interesse.
Oscar Wilde 

Als Satan die Buchmesse erfand – und er muss es gewesen sein, anders kann ich mir diese Einrichtung nicht erklären – da hatte er gerade einen Roman gelesen, der ihm überhaupt nicht gefiel, und deshalb den Entschluss gefasst, sich an allen Autoren zu rächen. Um welches Werk es sich dabei gehandelt hat, ist leider auch in den apo­kryphsten Schriften nicht überliefert, und auch Dante hat bei seiner Wanderung durch die Höllenkreise leider versäumt, danach zu fragen.

Aber dass Buchmessen eine Erfindung des Teufels sind, daran kann es keinen Zweifel geben.

Wer sonst, ausser Luzifer, könnte auf den sadistischen Gedanken kommen, Autoren mitten in einer Halle, in der sich gefühlte hunderttausend Menschen lautstark aneinander vorbeidrängen, vor ein Mikrofon zu sperren und ihnen zu sagen: „Nun lest mal schön vor!“?

Wem sonst, ausser dem Herrn der Unterwelt persönlich, könnte es einfallen, Schriftsteller für die Sünde des Sich-selber-wichtig-Nehmens dadurch zu bestrafen, dass er sie zwingt, sich zwischen Türmen von Büchern mühselig einen Weg zu bahnen – und kein einziges dieser Bücher ist von ihnen verfasst?

Wer sonst, ausser dem Fürsten der Finsternis, kann die untrinkbare bräunliche Flüssigkeit erfunden haben, die an Buchmessen unter dem Namen „Kaffee“ verkauft wird?

Nein, ich bin mir ganz sicher: Er war es. Mephisto, Beelzebub, Urian. Es war ihm verleidet, ständig nur Menschen auf dem Holzkohlengrill knusprig zu rösten oder ihnen von sabbernden Ungeheuern die Eingeweide herausreissen zu lassen. Auch die phantasievollsten Quälereien machten ihm keinen Spass mehr. Er suchte, um es mit der Sprachregelung entlassener Manager zu formulieren, nach neuen Herausforderungen. Als Herr der Hölle hat man zwar einen unkündbaren Arbeitsplatz – aber nach ein paar Äonen wird auch die abwechslungsreichste Tätigkeit zur Routine. Ausserdem fehlte ihm noch ein Eintrag im Guinness-Buch der Sadismus-Rekorde.

Und so erfand der Teufel die Buchmesse, diese massgeschneiderte Privathölle für Autoren. Wenn es in den Hallen von Frankfurt und Leipzig nicht immer so unerträglich laut wäre, könnte man ihn dort die ganze Zeit kichern hören.

Und das alles nur, weil ihm ein Roman so ganz und gar nicht gefallen hatte. Was das wohl für ein Buch gewesen ist? Ich würde ja auf „Shades Of Gray“ tippen. Aber das hat der Teufel bekanntlich selber geschrieben.

Erschienen in »Bücher am Sonntag« vom 28. September 2014,
Literaturbeilage der »NZZ am Sonntag«

 


 

Glosse des Monats Oktober

Ein Buch wegzuwerfen, nachdem man es gelesen hat, ist, wie wenn man eine Person nicht wiedersehen will, mit der man gerade ein sexuelles Verhältnis gehabt hat. Wenn das passiert, hat es sich nur um ein körperliches Bedürfnis gehandelt, nicht um Liebe.
Umberto Eco 

Nein, es liegt nicht an dir. Wirklich nicht. Es tut mir leid, wenn du dich jetzt verletzt fühlst, aber…

Es war schön. Doch, doch, natürlich war es schön. Besonders am Anfang. Als noch alles so geheimnisvoll war und ich nicht wusste, wie es weitergehen würde. Leider wusste ich das dann schon sehr bald. Und es ist ja auch so gekommen. Genau so. Dann wird es halt Routine.

Nein, es sind nicht die Äusserlichkeiten. Es stört mich nicht, dass deine Kapitel alle so angeschwollen sind. Wirklich nicht. Und an unnötigen Beschreibungen leiden viele andere Bücher auch. An Adjektivgeschwulsten. Mach dir da keine Vorwürfe. Diese ideal-gestyl­ten Models aus den Kritikspalten der FAZ – wer weiss, was die alles von ihren Lektoren haben machen lassen.

Du bist nicht zu dick. Ehrlich. Ausserdem, ich mag dicke Bücher. Gerade erst habe ich zum dritten Mal die „Buddenbrooks“…

Jetzt mach nicht so ein Theater. Das ist eine alte Liebe. Wir kennen uns schon ewig. Da ist es doch nur natürlich, dass man sich ab und zu wieder trifft. Das ist doch etwas ganz anderes, als das, was uns beide…

Ich bin fremdgegangen. Okay. Ich gebe es zu. Ich habe nie behauptet, dass ich ein perfekter Liebhaber bin. Während wir noch unser Verhältnis hatten, habe ich diesen Krimi getroffen. An einem Kiosk am Flughafen. Als ich für zwei Tage verreisen musste. Aber das war nichts. Nichts Ernstes. Ein One-Night-Stand. Ohne jede Bedeutung. Das kannst du nicht mit dem vergleichen, was wir beide…

Jetzt mach mir doch keine Szene. Na schön, ich habe dich auf dem Nachttisch liegen lassen. Habe vergessen dich einzupacken. Ich kann ja verstehen, dass dich das verletzt hat, aber es war doch keine Absicht.

Also gut, es war Absicht. Du hast michgelangweilt, verstehst du? Gelangweilt! Ich habe dich nur aus reinem Pflichtbewusstsein zu Ende gelesen. Und dabei an andere gedacht. An Spannendere. Nein, sie müssen nicht mal jünger sein. Das Alter hat damit überhaupt nichts zu tun. Die „Buddenbrooks“ zum Beispiel…

Ich wollte nicht, dass es so aufhört. Wirklich nicht. Aber du musst auch das Positive sehen: Im Antiquariat wirst du eine Menge Schicksalsgenossen treffen. Dort könnt ihr euch dann schön unterhalten und gemeinsam über eure treulosen Leser klagen.

Erschienen in »Bücher am Sonntag« vom 26. Oktober 2014,
Literaturbeilage der »NZZ am Sonntag«

 


 

Glosse des Monats November

Ein Dichter, der liest, ist wie ein Koch, der isst.
Karl Kraus 

Normale Menschen verstehen nicht immer auf Anhieb, was weniger normale Menschen – in diesem Fall Fachleute für Steuerfragen – eigentlich sagen wollen, wenn sie etwas verkünden. Den folgenden Satz sollten Sie deshalb ganz langsam lesen:

„Das Honorar eines Autors für die Lesung aus seinem Werk unterliegt dem ermässigten Umsatzsteuersatz von 7%, wenn die Lesung mit einer Theater­­vorführung vergleichbar ist.“

Kapiert? Nicht ganz? Dann will ich Ihnen diese Entscheidung des 12. Senats des Finanzgerichts Köln gern erläutern.

Geklagt hatte eine Autorin, die aus eigenen Werken gelesen hatte und deren Honorar vom Finanzamt mit dem vollen Umsatzsteuersatz von 19% belegt worden war. Sie ihrerseits war der Ansicht, dass es sich bei einer Lesung um eine künstlerische Veranstaltung handle, für die der reduzierte Satz gelte.

Das Finanzgericht gab ihr recht. Allerdings mit eben jener Einschränkung, die Sie zwar gelesen, aber bestimmt nicht in der Fülle ihrer Auswirkungen verstanden haben: Die Lesung muss mit einer Theatervorführung vergleichbar sein.

Was bedeutet – und Finanzbeamte sind in der Ausdeutung von Gesetzen kreativer als jeder Kreationist in der Auslegung von Bibelversen: Jene Kollegen, die bei ihren Lesungen nie von ihren Büchern aufblicken und nur eintönig vor sich hin nuscheln, zahlen auch weiterhin den vollen Steuersatz. Denn da ist weit und breit nichts vom Charakter einer Theatervorstellung zu spüren.

Wer Steuern sparen will, wird also in Zukunft gestikulieren, dramatische Grimassen schneiden und vielleicht ab und zu einen Salto einlegen. Was eben so zu einer richtigen Theatervorstellung gehört. Er kann auch gern zwischendurch das eine oder andere Volkslied singen. Falls sein zuständiger Finanzbeamter ein regelmässiger Theaterbesucher ist, wird er dann sofort notieren: „Stilistisch von Marthaler beeinflusst.“

Es könnte finanztechnisch auch empfehlenswert sein, vor der Lesung beim Kostümverleih vorbeizuschauen oder sich einen falschen Bart zu kleben.

Und vielleicht, wer weiss, lässt sich der Steuersatz sogar noch weiter senken. Man müsste dafür einfach sehr, sehr theatralisch lesen. Als sich Rainald Goetz damals beim Ingeborg-Bachmann-Preis während seiner Lesung die Stirn aufschlitzte, hätte er eigentlich sogar Geld rausbekommen müssen.

Aber für Klagenfurt ist das Finanzamt Köln ja nicht zuständig.

Erschienen in »Bücher am Sonntag« vom 7. Dezember 2014,
Literaturbeilage der »NZZ am Sonntag«