Roman
542 Seiten
Verlag Nagel & Kimche, 2011

Seit ich in einer Sendung – ich wüsste nicht mehr zu sagen, ob es sich im Radio oder am Fernsehen war – zum ersten Mal etwas über Kurt Gerron erfuhr, hat mich sein Schicksal nicht losgelassen. Ein beliebter Sänger und Schauspieler, ein Ufa-Star, der mit allen Prominenten seiner Zeit befreundet war, ein erfolgreicher Filmregisseur, der von einem Tag auf den andern aus seinem Atelier und seinem Heimatland vertrieben wird, das wäre eigentlich schon Basis genug für einen Roman. Aber dass dieser Mann dann in Holland dann ausgerechnet in ein Durchgangslager gerät, dessen Kommandant mit großem Aufwand Kabarett spielen lässt, das ist kaum zu glauben. Genau so wenig, wie dass er später im Ghetto von Theresienstadt gezwungen wird, einen Film zu drehen, in dem dieses Hungerlager, in dem so viele Menschen starben und von wo aus noch viel mehr nach Auschwitz deportiert wurden, als Paradies geschildert werden sollte. Der Film ist heute irrtümlich unter dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ bekannt. Eigentlich hieß er „Theresienstadt – eine Dokumentation aus dem jüdischen Siedlungsgebiet.“ Manche Überlebende und Nachgeborene werfen Kurt Gerron vor, dass er sich nicht geweigert hat, diesen Film zu drehen. In meinem Roman versuche ich zu zeigen, in welcher moralischen Zwickmühle er steckte.

Übersetzungen:
Holländisch
Französisch
Italienisch
Tschechisch
Russisch

Er war nett zu mir, und das macht mir Angst. Er hat mich nicht angeschrieen, was normal gewesen wäre, sondern war höflich. Ein Tonfall, als ob er mich siezen würde. Er hat mich nicht gesiezt, das wäre ihm nicht in den Sinn gekom­men, aber er hat meinen Namen gewusst. „Du, Gerron“, hat er zu mir gesagt und nicht „Du, Jud“. Es ist gefährlich, wenn ein Mann wie Rahm deinen Namen kennt.
„Du, Gerron“, hat er gesagt, „ich habe einen Auftrag für dich. Du wirst einen Film für mich drehen.“
Einen Film.
Er will etwas Privates, habe ich zuerst gedacht, einen Film über sich selber. Der liebende Vater Karl Rahm mit seinen drei Kindern. Der Herr Ober­sturm­führer als Mensch verkleidet. Etwas in der Art. Was er an seine Familie in Klosterneuburg schicken kann.
Ja, wir wissen, wie viele Kinder er hat. Wir wissen, wo er herkommt. Wir wissen alles über ihn. So wie arme Sünder alles über Gott wissen. Oder über den Teufel. Die Ufa, das hat mir Otto erzählt, dreht jedes Jahr einen Film zum Lobe von Joseph Goebbels. Immer zu seinem Geburtstag. Sie schicken ihm einen ihrer Stars, den Rühmann zum Beispiel, der macht was Niedliches mit den Goebbelsschen Kindern, und damit schleimen sie sich beim Herrn Propa­gan­daminister ein.
So etwas, habe ich mir vorgestellt, will jetzt auch der Rahm. Das wäre kein Problem gewesen. Nicht in meiner Lage.
Aber Rahm denkt größer. Der Herr Obersturmführer hat andere Pläne.
„Hör zu, Gerron“, hat er gesagt. „Ich hab mal einen Film von dir gesehen. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß, aber er hat mir gefallen. Du kannst was. Das ist das Schöne an Theresienstadt: Hier sind eine Menge Leute, die was können. Ihr spielt ja auch Theater und so. Und jetzt will ich eben einen Film.“
Dann hat er mir erzählt, was für ein Film es werden soll.
Ich bin erschrocken. Man muss es mir angemerkt haben, aber er hat nicht darauf reagiert. Weil er mein Erschrecken erwartet hat. Oder weil es ihm egal war. Ich kann solche Gesichter nicht lesen.
„Wir haben schon früher mal einen Versuch in der Richtung gemacht“, sagte er, „aber der ist nicht gelungen. Ich war sehr unzufrieden. Die Leute, die das versaut haben, sind nicht mehr hier.“
Es fährt immer ein nächster Zug nach Auschwitz.
„Jetzt bist du dran“, sagte Rahm. Immer noch freund­lich. Seine Stimme immer noch freundlich. „Wenn wir beide Glück haben, kommt dieses Mal ja etwas Gutes dabei raus. Nicht wahr, Gerron?“
„Ich muss mir das überlegen“, habe ich gesagt. Zu Rahm. Eppstein, der als Juden­älte­ster auch geladen war, atmete ein erschrockenes Stöhnen in sich hinein. Ein Jude hat nicht zu widersprechen. Nicht, wenn der Lagerkomman­dant etwas verlangt. Der SS-Mann, der mich hergebracht hatte, machte sich schon zum Prügeln bereit. Ich habe seine Hand nicht gesehen, nur die Bewe­gung gespürt. Man dreht sich aus der Achtungs­stellung nicht weg. Nicht im Büro des Lagerkommandanten. Der Schlag war schon unterwegs, aber Rahm winkte ab.
„Er ist ein Künstler“, sagte er. Machte immer noch sein freundliches Onkel Rahm-Gesicht. „Er braucht Inspiration. Das ist in Ordnung, Gerron“, sagte er. „Ich gebe dir drei Tage. Zum Nachdenken. Damit der Film auch ein Erfolg wird. Nicht dass ich noch einmal mit jemandem unzufrieden sein muss. Drei Tage, Gerron.“ Meine Prügel habe ich dann doch noch bekommen. Vor der Tür von Rahms Büro. Der SS-Mann schlug mich ins Gesicht, wie sie es meistens tun. Aber nicht mit voller Kraft. Ich werde noch gebraucht.

Wenn man schon wüsste, wie es aufhört, würde man anfangen wollen? Würde man sich nicht die Nabel­schnur um den Hals winden, um erwürgt zu sein, noch bevor man an die Luft kommt? Würde man nicht Mittel finden, um gar nicht erst an den Start zu gehen bei einem Rennen, das man schon verloren hat?
Man hat mir von einem Kind erzählt, das, noch vor meiner Zeit, im Zug von Amster­dam nach Westerbork zur Welt kam, und für das Gem­meker die besten Kinderärzte aus der Stadt kommen ließ. Eine Säug­lings­schwester, die schon mal einer leib­haftigen Kron­prinzessin die Windeln gewechselt hatte. Die Mutter aller­dings ging noch am Tag ihrer Ankunft nach Osten. Sie hatte mit der unbot­mäßigen Geburt die Zahlen auf den Transportpapieren durch­ein­andergebracht und durfte zum Aus­gleich eine andere Liste ver­voll­ständi­gen.
In Westerbork herrscht ein anderer Wahnsinn als hier in Theresienstadt. Aber auch er hat Methode. Vor­schriften. Um als voll zählende Men­schen­einheit nach Auschwitz geschickt zu wer­den, muss man ein halbes Jahr alt sein.
Dieses Kind aus dem Zug: Hätte es geboren werden wollen, wenn es ge­wusst hätte, dass seine wohlbehütete Jugend genau sechs Monate dau­ern wür­de? Plus drei Tage für die Zugfahrt?
Natürlich nicht.
Es gibt eine Legende, die mein Großvater Emil Riese mir erzählt hat, jeden Satz mit einer Wolke aus Zigarrenqualm beweih­räuchernd. Ich liebte die phantastischen Geschichten meines Groß­vaters, so wie mein der Rationa­lität verschriebener Vater sie hasste.
Sie ging so: Wenn ein Mensch erschaffen wird – er erklärte mir nicht, wie das vor sich ging, und ich war noch nicht in dem Alter, wo man danach fragt –, wenn ein Mensch beginnt, Mensch zu sein, dann weiß er schon alles, was es zu wissen gibt, das, was in den klu­gen Büchern steht und auch die Dinge, die noch keiner entdeckt hat. Er kennt die Ereignisse der Ver­gangen­heit, und er weiß, was noch alles geschehen wird, draußen in der Welt und drinnen im eigenen Leben. Aber kurz bevor er geboren wird – auch wie das im Ein­zelnen vor sich ging, blieb mir damals noch ein Rätsel – kommt ein Engel und tippt ihm mit dem Zeig­efinger an die Stirn. Pling. Dann ver­gisst der neue Mensch alles, was er eigentlich schon gewusst hat. Wenn er dann zur Welt kommt, sagte mein Großvater, erinnert er sich gerade noch daran, wie man oben etwas in sich hineinsaugt und unten etwas aus sich herauspresst. Ich lachte, und er füllte die Pause, indem er an seiner Zigar­re paffte. Eine effektvolle Erzähltechnik, die einen die Pointen besser plazieren lässt. Ich habe sie später auf der Bühne selber angewendet.
Nur die Juden, fuhr Großpapa fort, sind schlau genug und drehen den Kopf weg, wenn der Engel kommt. Sein Finger trifft dann nicht mehr ihre Stirn, sondern gerade noch die Nasenspitze. Sie ver­ges­sen deshalb nicht alles, was sie schon gewusst haben, sondern nur das meiste. Des­halb, sagte mein Groß­vater, sind wir Juden klüger als andere Leute, und des­halb, sagte er, haben wir krum­me Nasen. Eine Erklärung, auf die noch nicht einmal der Stürmer gekom­men ist. Papa war damals nicht dabei. Er hätte die Geschich­te vor ihrem Ende unterbrochen und gesagt: „Erzähl dem Jungen nicht solche Sachen! Und über­haupt, immer dieser Zigarren­rauch, das kann für das Kind nicht gesund sein.“
Die altmodische Wohnung an der Händelstraße war ständig voller Qualm. „Ich darf das“, meinte Großpapa. „Wenn man Witwer ist, darf man alles.“
Wenn mich mein eigener Engel mit seinem Schnipser verfehlt hätte, und ich hätte mein Le­ben von Anfang an gekannt, mit all seinen miesen Episoden und sei­nem noch mieseren Finale, wie man ein Thea­ter­stück kennt, nach­dem man das Textbuch gelesen hat – ich hätte meine Rolle trotz­dem spielen wol­len. Weil der Text noch nicht die Insze­nierung ist. Mein Wis­sen hätte ich als ersten Entwurf betrachtet, als etwas, das man während der Proben immer noch diskutieren und abändern kann. Und was die wirklich unan­genehmen Passagen anbe­langt: Strich bis zur nächsten Szene.
Nein, ich hätte mich nicht im Mutterleib festgekrallt. Mich hätte man nicht mit Gewalt in die Welt zerren müssen. Ich hätte es probieren wol­len. Ange­trieben von einem unvernünftigen Vertrauen in die eigene Gestal­tungs­kraft.
In den Jahren, als ich berühmt war, habe ich immer mal wieder einen Fragebogen beant­worten müssen, für eine Zeitung oder eine Illustrierte. In jedem zweiten kam die Frage vor: Was ist Ihr größter Fehler? Ich habe dann hingeschrieben, was man eben so hinschreibt: Ungeduld oder Ich kann Süßigkeiten nicht widerstehen. Aber eigentlich hätte da stehen müs­sen: Mein größter Fehler? Ich glaube an die Inszenierbarkeit der Welt.

Olga ist mir um den Hals gefallen. Wie Mama damals, als ich von der Front auf Urlaub kam. Nicht jeder, der zu Rahm bestellt wird, kommt auch wieder zurück. „Gott sei Dank“, hat sie gesagt. Olga ist kein Mensch, der betet, das sind wir beide nicht, aber es war mehr als eine Floskel. „Ich habe dir ein Stück Brot aufgehoben“, hat sie gesagt. Ich habe versucht, es ganz langsam zu essen und habe es dann doch hinuntergeschlungen.
Olga hat mich nichts gefragt. Hat sich auf meinen Schoß gesetzt und ihren Kopf an meine Brust gelegt. Ihre Haare riechen immer wie frisch gewaschen. Ich weiß nicht, wie sie das macht, hier im Ghetto.
Ich habe die richtigen Worte gesucht und sie nicht gefunden. Es gibt keine richtigen Worte. Ich habe ihr erzählt, was man von mir verlangt, und auch sie ist erschrocken. Nicht wegen des Films, sondern weil ich Rahm wider­spro­chen habe.
„Du bist verrückt“, hat sie gesagt.
Vielleicht bin ich das. Manchmal tue ich Din­ge, für die man Mut haben müsste. Und bin doch gar kein mutiger Mensch. Ich meine nur immer noch – und da­bei müsste ich unterdessen wirklich gelernt haben, dass das nicht stimmt –, ich meine nur immer noch, dass man die Dinge beeinflussen kann.
Sogar bei Rahm.
„Ich habe drei Tage Zeit“, habe ich gesagt, „aber ich weiß jetzt schon, welche Antwort ich ihm geben muss.“
„Wir wissen es beide“, hat Olga gesagt. „‚Ja, Herr Obersturmführer’, heißt deine Antwort. ‚Selbst­verständlich, Herr Obersturmführer. Zu Befehl, Herr Ober­sturm­führer.’“
„Ich kann diesen Film nicht machen.“
„Man kann alles. Du bist auch in Ellecom aufgetreten.“
Es war nicht fair, mich daran zu erinnern. Das war der schreck­lichste Tag meines Lebens.
Einer der schrecklichsten Tage.
Dann haben wir lang geschwiegen. Es tut gut, mit Olga zu schweigen.
Durch das offene Fenster kam eine Wolke von Gestank. Oder sie war die ganze Zeit schon da gewesen, und ich hatte sie bloß nicht bemerkt. Man gewöhnt sich an alles.
Man kann alles machen.
„Nicht diesen Film“, habe ich zu Olga gesagt. „Den Rest meines Lebens müsste ich mich dafür schämen.“
„Wie lang ist der Rest deines Lebens, wenn du dich weigerst?“ Sie redet nicht um die Dinge herum.
„Du würdest mich verachten.“
„Es gibt schlimmere Dinge als Ver­ach­tung.“
Es gibt immer noch schlimmere Dinge. Die Binsenweisheit unseres Jahr­hunderts. Der Welt­krieg? Eine kleine Fingerübung. Ein Staat, der ausein­anderfällt? Nur der Bühnenumbau für die wirklich großen Szenen. Die Nazis und all ihre Gesetze? Auch nur zum Warmlaufen. Der Höhepunkt kommt erst noch. Ganz zum Schluss. Wie im Kino. Lass dich überraschen.
„Wie lang dauert es, bis so ein Film fertig ist?“, hat Olga gefragt. „Wirklich ganz fertig?“
„Drei Monate. Mindestens. Die Dreharbeiten sind das Geringste. Aber vor­her muss man ein Buch schreiben und hinterher der Schnitt …“
„In drei Monaten“, hat sie gesagt, „kann der Krieg vorbei sein.“
„Ich bin nicht der Mensch, der so was kann“, habe ich gesagt.
„Du hast drei Tage.“ Olga ist aufgestanden. „Du solltest sie nutzen, um heraus­zufinden, was für ein Mensch du wirklich bist.“
Dann hat sie mich allein gelassen.

NZZ AM SONNTAG, 21.8.2011

Ein Sommer in Theresienstadt

Ins Lager verschleppt und zu einem Propagandafilm über das Lager gezwungen: Charles Lewinsky erzählt in seinem Roman «Gerron» das Leben des von den Nazis ermordeten Regisseurs Kurt Gerron.
Von Andreas Isenschmid

Welch ein Anfang! Charles Lewinsky zögert in seinem neuen Roman «Gerron» keine Sekunde. Er verzichtet auf die üblichen nichtssagenden Wetterangaben und Ortsbeschreibungen und geht sogleich mitten in den gewaltigen ethischen Konflikt, der uns in diesem Roman über 540 Seiten in seinem Bann halten wird.

Es stehen sich gegenüber: ein SS-Mann und ein jüdischer Deportierter. Der SS-Mann ist Karl Rahm, der Kommandant des Lagers Theresienstadt. Der Jude ist Kurt Gerron, der Regisseur und Schauspieler, der in der Weimarer Republik berühmt wurde, am meisten wohl durch seine Interpretation des Haifisch-Songs in Brechts «Dreigroschenoper», aber auch durch den Zauberkünstler an der Seite von Marlene Dietrich im «Blauen Engel». August 1944: Die Nazis haben Gerrons Eltern in Sobibor ermordet. Nun hat der Lagerkommandant für Gerron «einen Auftrag»: «Du wirst einen Film für mich drehen.» Es soll ein Streifen sein, der Theresienstadt zu einem prachtvollen jüdischen Städtchen mit sinnvoller Arbeit und viel Freizeit umlügt.

Gerron weiss sofort, wie vergiftet dieser Auftrag ist. «Den Rest meines Lebens müsste ich mich dafür schämen», sagt er zu seiner Frau Olga. «Wie lang ist der Rest deines Lebens, wenn du dich weigerst?», fragt sie zurück. Aus Theresienstadt gingen täglich Züge nach Auschwitz. «Wie lange dauert es, bis so ein Film fertig ist?», fragt die Frau dann noch. «Drei Monate», antwortet Gerron. «In drei Monaten», sagt Olga, «kann der Krieg vorbei sein.» Im Lager kursieren Gerüchte über den Vormarsch der Alliierten. Drei Tage Bedenkzeit hat er. «Du solltest sie nutzen», sagt Olga, «um herauszufinden, was für ein Mensch du wirklich bist.» Gerron: «Was wäre ich für ein Mensch, wenn ich das täte? Ein Mensch, der nicht nach Auschwitz geschickt wird. Ein Mensch, der es verdient hätte, nach Auschwitz geschickt zu werden.»

Nach wenigen Seiten hat Lewinsky Held und Leser mitten in einen der quälendsten moralischen Skandale des Nationalsozialismus gestellt: Scham war nie eine Erfahrung der Täter. Geschämt haben sich stets nur die Opfer. Manche der Überlebenden empfanden ihr Überleben als Schmach. Eine ganz besondere Scham empfanden jene, die ihr Überleben einer Zusammenarbeit mit den Nazis verdankten.

Lewinskys Roman beruht auf einem historischen Fall. Das Ehepaar Gerron und der Lagerkommandant Rahm sind historische Figuren. Auch der Film, zu dem Rahm Gerron zwang, ist historisch. Man kann ihn auf Youtube sehen. Als «Spielleiter» figuriert Kurt Gerron. Er musste allerdings nicht nur mit der Scham leben, mit den Nazis kollaboriert zu haben. Noch bevor der Film geschnitten war, wurden er, seine Frau und seine Darsteller in Auschwitz ermordet. Drei Tage nach Gerrons Tod wurden die Vergasungen eingestellt.

Lewinsky hat für «Gerron» drei Jahre recherchiert und geschrieben. Es dürfte niemanden geben, der mehr über Gerrons Leben weiss. Aber wichtiger als seine Recherche ist die künstlerische Entscheidung: Lewinsky hat der naheliegenden Versuchung widerstanden, über Gerron einen faktisch wohlfundierten, mit ein bisschen Einfühlung in die Figuren garnierten historischen Roman in der dritten Person zu schreiben. Nein, er lässt Gerron selber in der Ich-Form erzählen – und wie Lewinsky die Ich-Stimme Gerrons erfindend imitiert, dieses treffende, zugleich knappe und wortreiche, zugleich verquatschte und verschwiegene jüdische Berlinerisch, ist ein wahres literarisches Wunder. (Nur den Helvetismus «Auslegeordnung» hätten die Berliner nicht verstanden.)

Dann hat Lewinsky eine zweite Entscheidung getroffen. Er gibt Gerron nur drei Monate Zeit für seine Lebens-Erzählung, die drei Monate zwischen dem «Auftrag» und der Deportation nach Auschwitz. In dieser Zeit vergewissert sich Gerron noch einmal seines Lebens, von den Kindheitserinnerungen über den 1. Weltkrieg, die künstlerischen Erfolge, die Liebe zu Olga bis zum letzten Lebenstag, der im Präsens erzählten Zugfahrt nach Auschwitz.

Zwei Kräfte, eine leichte und eine schwere, wirken in dieser Lebenserzählung mit- und gegeneinander: einerseits das flüssige, sarkastische, pointenverliebte Berliner Kabaretts-Parlando, das Gerron ein Leben lang gesprochen hat. Anderseits das Gewicht der Lebensprüfung – was für ein Mensch bist du? -, der sich Gerron unterzieht. Immer wieder büxt er aus in seine Lebenserinnerungen, die sich zu einem kulturgeschichtlichen Panorama der Weimarer Republik weiten. Und stets kehren seine Erinnerungen zurück in die Theresienstädter Gegenwart. Er erzählt, wer er war, um herauszufinden, wer er ist. Und stellt sich dabei so lebenswahr vor uns wie nicht oft eine Romanfigur.

Lewinskys Erzählung von Gerrons Leben ist von seltenem sprachlichem Glanz, von lebendigstem Reichtum und von verblüffender erzähltechnischer Virtuosität. Nichts sagt er ins Ungefähre, alles gibt er in kleinsten Einzelheiten, die erfundenen verknüpft er unsichtbar mit den gefundenen, geräuschlos schaltet er vom Imperfekt übers Perfekt ins Präsens, souverän verbindet er den Lebensrückblick mit der elenden Lagergegenwart, die Selbstprüfung mit dem detaillierten Bericht von den Filmarbeiten im Lager.

Hyperrealisten mögen sich fragen, wem und wann genau Gerron das alles erzählt – manches sich selber auf dem Klo. Tragiker mögen bezweifeln, dass einer dieses Parlando bis in den Tod durchhält – sie haben übersehen, dass es schon immer aus Verletzung und Verschweigen kam. Und auch die Kritiker, die Lewinskys «Melnitz» vorwarfen, er blende den Holocaust aus, haben nun nichts mehr zu beissen. Lewinsky hat sich und seinen «Melnitz» mit dem «Gerron» übertroffen.

TAGESANZEIGER VOM 12. SEPTEMBER 2011

Als Mann sterben oder als Schwein leben

Der deutsch-jüdische Schauspieler Kurt Gerron drehte 1944 für die Nazis einen Propagandafilm über das Konzentrationslager von Theresienstadt. In seinem fesselnden neuen Roman erzählt Charles Lewinsky dessen Geschichte. 
Von Alexander Sury

«Er war nett zu mir, und das macht mir Angst.» Es ist, als wüsste man als Leser schon nach diesem ersten Satz, dass dieses Buch gut ist. Er: Das ist Rahm, der über Leben und Tod entscheidende Kommandant des Konzentrationslagers Theresienstadt. Der verängstigte Icherzähler ist Kurt Gerron, in der Weimarer Republik ein gefeierter Schauspieler und Regisseur. Ruhm erlangte der korpulente, oft in zwielichtigen Nebenrollen besetzte Mime mit der Moritat von Mackie Messer in der Uraufführung von Brechts «Dreigroschenoper». Der Haifisch mit den Zähnen im Gesicht, das ist aber eher dieser Rahm, als der Bericht einsetzt.

Es ist der Sommer 1944. Aus Gerron, dem umschwärmten Publikumsliebling, ist nach einer Odyssee durch halb Europa ein Lagerhäftling geworden, dessen Auftritte sich auf das Ghetto-Kabarett «Karussell» beschränken. Und mit Theresienstadt präsentieren die Nazis der Welt eine «jüdische Mustersiedlung», in der prominente Juden aus Deutschland und aus den besetzten Gebieten eingesperrt werden. Ehe das Rote Kreuz das Lager inspizieren darf, hat der Kommandant «einen ganzen Zug voller alter Leute nach Auschwitz geschickt. Aus ästhetischen Gründen».

Rückblick aufs Leben

Und jetzt hat Gerron vom Kommandanten einen Auftrag erhalten: Er soll einen Propagandafilm über die «Lageridylle» drehen. Gerron, der Variétékünstler an der Seite von Marlene Dietrich in «Der blaue Engel», soll für seine Peiniger «jede Menge Hokuspokus-Nummern und Damen ohne Unterleib» auf die Leinwand zaubern.

Drei Tage Bedenkzeit gewährt Rahm und stürzt den «A-Prominenten» mit dem Kennzeichen «XXIV/4-246» in ein schreckliches Dilemma: «Will ich als Mann sterben oder als Schwein weiterleben?» Soll er dieses Machwerk drehen und damit vielleicht sein Leben, das seiner Frau Olga und der am Film Mitwirkenden retten? Immerhin rückt die Front täglich näher, die Niederlage des «Dritten Reiches» wird immer wahrscheinlicher. Oder müsste er sich nicht standhaft weigern und die Deportation mit dem Vermerk «Rückkehr unerwünscht» in Kauf nehmen?

Kurt Gerron ringt mit sich und lässt, während die Bedenkfrist abläuft, sein Leben Revue passieren. So beginnt ausgehend von der bedrückenden Gegenwart in Theresienstadt – selten wurde die teuflische Perfidie der zur Kollaboration gezwungenen «Judenräte» so eindringlich vor Augen geführt – ein grosser innerer Monolog mit Rückblenden. Es ist eine Selbstvergewisserung voll kessem Witz und lässiger Schnoddrigkeit, voll Berliner Schnauze und melancholischer Klugheit, und Gerron fragt sich: Wie bin ich zu dem geworden, der ich jetzt in dieser schier unerträglichen Situation bin?

In seinem epischen Familienroman «Melnitz» (2006) hat Charles Lewinsky die Geschichte einer jüdischen Sippe in der Schweiz über mehrere Generationen von 1871 bis 1945 in der Tradition der grossen Realisten des 19. Jahrhunderts erzählt. Jetzt lässt der 65-jährige Autor ein ebenso ambitioniertes und thematisch verwandtes Werk folgen. Lange als hoch produktiver Meister der leichten Unterhaltung schubladisiert, der Dialoge für Sitcoms, Librettos für Musicals und Texte für Schlagerlieder schrieb, hat sich Lewinsky spätestens mit «Melnitz» als Romancier von internationalem Format etabliert.

Berufsverbot auf dem Set

Im Unterschied zu «Melnitz» ist der Holocaust in «Gerron» nun der unausweichliche Fluchtpunkt der Geschichte. Eines hat Lewinsky in einem Interview aber klargemacht: «Ich stamme aus einer jüdischen Familie, also war es sinnvoll, auch darüber zu schreiben. Aber ich bin nicht vom Berufsschriftsteller zum Berufsjuden geworden.»

Die Geschichte von Kurt Gerron liess Lewinsky nicht los, seit er vor Jahren im Radio eine Sendung über den einstigen UFA-Star gehört hatte. Gerrons Karriere endete abrupt, als 1933 auf dem Set des Films «Kind, ich freu mich auf Dein Kommen» allen Juden ein faktisches Berufsverbot eröffnet wurde. Lewinsky lässt Gerron diese Episode zunächst so erzählen, als ob die Filmcrew mit wütenden Protesten reagiert und den Regisseur demonstrativ habe hochleben lassen. Nach einem lakonischen «Aber so war es nicht» wird die «zweite Aufnahme» der Szene gezeigt: Von einem Aufstand keine Spur, Gerron verlässt wie gelähmt das Atelier und fährt nach Hause.

Während Schauspieler wie Heinz Rühmann im «Dritten Reich» als Aushängeschilder der goebbelsschen Filmindustrie dienten und im Nachkriegsdeutschland ihre Karrieren nahtlos fortsetzten, ist die Erinnerung an den Charakterkopf Gerron fast vollständig verschwunden. Lewinsky wollte das nicht hinnehmen und recherchierte alle verfügbaren Fakten zu Gerrons Leben. Über die Kindheit des jüdischen Kaufmannssohnes in Berlin ist allerdings wenig bekannt, auch zu Gerrons Kriegseinsatz im Ersten Weltkrieg an der Westfront und zu seiner schweren Verletzung fand der Autor kaum gesicherte Lebensspuren.

Der gewiefte Erzähler und vorzügliche Dialogschreiber Lewinsky verknüpft das Gefundene mit Erfundenem. Das ist so raffiniert wie riskant. Als Leser kann man nicht mehr unterscheiden zwischen gesicherten Fakten und der Imagination des Autors. Lewinsky absorbiert das dokumentarische Material über Gerron und schlüpft als Erzähler in den Kopf seines Protagonisten.

Das Wagnis zahlt sich allerdings aus: «Gerron» erzählt zwar nicht immer die auf Dokumente und Zeugnisse gestützte Wahrheit, entwirft aber mit stupender Gestaltungskraft das Lebensbild eines Komödianten, der die Wirklichkeit stets als Erweiterung der Bühne begriff. Die Anziehungskraft der Nazis auf die von Krieg und Inflation gebeutelten Massen erklärt er denkbar einfach: «Es beruhigt, wenn man Regieanweisungen hat.» Lewinsky legt diesem Kurt Gerron eine frische, unverblümte Sprache in den Mund: Wir folgen ihm durch eine behütete, kaum von Antisemitismus gestreifte Kindheit und Jugend bis zum Notabitur («Um durchzufallen, hätte man den Blinddarm schon hinter der Kniescheibe suchen müssen»).

Der Icherzähler lässt einen mit drastischer Anschaulichkeit das Grauen des Stellungs- und Gaskrieges an der Westfront hautnah erleben. Die Kriegsverletzung, ein Granatensplitter im Genitalbereich, nimmt ihm seine Männlichkeit, rettet ihn gleichzeitig auch vor der «Wurstmaschine» und legt in einem «Krüppelheim» den Grundstein zu seiner schauspielerischen Karriere: Er organisiert Unterhaltungsabende und tritt vor den Kriegsversehrten auf.

Der Aufstieg zum gefeierten Max-Reinhardt-Schauspieler und UFA-Star liest sich passagenweise wie eine fulminante, anekdotensatte Kulturgeschichte der Weimarer Republik – mit prägnanten Auftritten von Max Schmeling, Peter Lorre, Curt Bois, Marlene Dietrich und nicht zuletzt Bertolt Brecht, den Gerron als geniales Scheusal präsentiert: «In Berlin erzählte man sich, er habe zu Hause eine kosmetische Maschine stehen, die ihm jeden Morgen frischen Dreck unter die Fingernägel stopfe. Damit er auch wirklich echt proletarisch aussah.»

Das Ende in Auschwitz

Lewinsky kommt seinem Protagonisten auf atemraubende Weise nahe, obwohl auch er auf die entscheidenden Fragen keine eindeutigen Antworten gefunden hat: Warum setzte sich Gerron, obwohl offenbar Angebote vorlagen, nicht frühzeitig in die USA ab? Und warum willigte er schliesslich ein, den Film über Theresienstadt zu drehen? War auch Eitelkeit im Spiel? Er schreibt: «Jetzt bin ich wieder Regisseur. Ein Mann, der etwas bewegt. Ich bin wieder Kurt Gerron.»

Am Ende sitzt Gerron mit seiner Frau in einem Eisenbahnwaggon nach Auschwitz und erinnert sich an eine kranke Taube, die er als Knabe in einem Schuhkarton vergeblich pflegte. Von den anderen Häftlingen wird er geschnitten, weil er den Film gedreht hat (Und: «Die Transporte sind trotzdem wieder losgegangen.»). Der «Aussätzige» kann die Reaktionen verstehen: «Ich möchte mich auch nicht kennen.» Der Leser hingegen hat diese reale Kunstfigur Kurt Gerron dank Charles Lewinsky bis in ihre innersten Regungen kennen gelernt.

Ob sich alles tatsächlich so zugetragen hat, wie Lewinsky schreibt? Der Autor setzt der Frage am Ende seine dichterische Wahrheit entgegen: «Aber so war es.» Drei Tage nachdem Kurt Gerron und seine Frau am 30. Oktober 1944 in Auschwitz ermordet worden waren, stellten die Nazis die Vergasungen ein. Der Film über Theresienstadt, vom Kameramann geschnitten und vertont, erhielt den Titel: «Der Führer schenkt den Juden eine Stadt.»

 

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