Glossen
123 Seiten
2012, Verlag Neue Zürcher Zeitung
Mit Vignetten von Thomas Di Paolo 

Seit bald fünf Jahren schreibe ich jeden Monat eine Glosse für „Bücher am Sonntag“, die Literarturbeilage der „NZZ am Sonntag“. Die Redaktion lässt mir dabei völlig freie Hand – solang die Texte etwas mit Literatur zu tun haben, redet mir niemand rein. Am Anfang befürchtete ich, die Themen würden mir irgendwann einmal ausgehen, aber das Gegenteil ist eingetreten: Wenn „Bücher am Sonntag“ zweimal im Jahr ausfällt, bin ich immer ganz enttäuscht, weil meistens nicht nur die Idee schon da ist, sondern auch der fertige Text.

Jede Glosse beginnt mit dem Zitat eines Autors. Manchmal ist es dieses Zitat, das mir die Anregung zu einem Kommentar gab, und manchmal suche ich mir das passende Zitat zum Thema. (Man muss dafür keine meterlangen Bücherregale haben. Das System „Wer nicht weiß, der googelt“ bewährt sich auch hier.

Nun ist der Verlag der Neuen Zürcher Zeitung auf die Idee gekommen, die bisher erschienenen Glossen als Buch herauszugeben. Ich habe mich nicht dagegen gewehrt. Vor allem auch, weil die einfallsreichen Vignetten meines Freundes Thomas Di Paolo nun nicht mehr nur auf dieser Website zu bewundern sind.

Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.
Jorge Luis Borges

Pscht! Ja, Sie meine ich! Wie kommen Sie dazu, im himmlischen Lesesaal einfach so herumzuschwatzen? Sehen Sie das Ruhe-Schild nicht, da drüben an der Wolke? Sie sind wohl noch nicht lange bei uns?
Ah, gerade erst angekommen. Erst vor fünf Minuten von einem Auto überfahren worden. Na, dann erst mal herzlichen Glückwunsch dazu.
Was möchten Sie als erstes lesen? Ihre eigene Personalakte, stimmt’s? Woher ich das weiss? Das wollen eigentlich alle Neuankömmlinge. Das Interesse hält aber nie sehr lang an. Schon nach ein paar tausend Jahren steigen die meisten auf interessantere Lektüre um. Für Personalakten müssen Sie allerdings in den Lesesaal II gehen. Wir mussten die Abteilungen separieren, damit die Leser hier nicht durch den permanenten Krach gestört werden. Ja, Krach. Dieses dauernde Klatschen.
Nein, ich meine nicht Applaus. Ich meine die Leute, die sich beim Studieren ihrer Lebensgeschichte immer wieder mit der flachen Hand an die Stirn hauen und rufen: „Mein Gott, war ich ein Idiot!“
Hier würde das stören. Wir bestehen auf himmlischer Ruhe. Sie befinden sich nämlich in der Abteilung für Belletristik. Wir verfügen über alle guten Bücher die seit Erschaffung der Welt in sämtlichen Sprachen geschrieben wurden. Fast zehntausend Bände.
Nein, nicht mehr. Nur die wirklich guten Bücher schaffen es ins Paradies. Wenn sie die anderen paar Milliarden lesen wollen: tausend Stockwerke tiefer. Die Kollegen von der satanischen Bibliothek haben, wie ich höre, eine umfassende Sammlung. Allerdings darf man dort schlechte Bücher nicht weglegen, bevor man sie zu Ende gelesen hat. Darum heisst es ja auch Hölle.
Und der Lesesaal ist ziemlich überhitzt. Wegen der glühenden Kohlen und so.
Was sagen Sie? Die Hocker hier im himmlischen Lesesaal sehen auch nicht gerade bequem aus? Man merkt, dass Sie noch nicht lang hier oben sind. Überlegen Sie doch mal: Wenn unsere Stühle Rückenlehnen hätten, würde man sich permanent die Flügel einklemmen.
Darf ich dann bitte mal Ihren Bibliotheksausweis sehen? Die kleine Karte, die Sie beim Einchecken zusammen mit Ihrer Harfe bekommen haben. Nein, das hier ist der Fahrausweis für den Sonnenwagen. Und das die Chipkarte für den Ambrosia-Automaten.
Kein Ausweis? Dann tut es mir leid. Wir mögen uns ja hier im Paradies befinden – aber Ordnung muss sein.

 

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