(mit Doris Morf)
Historische Fiktion
249 Seiten
Unionsverlag Zürich, 1984

Das war mein allererstes Buch – wenn man von einem Roman absieht, den ich mit Anfang zwanzig geschrieben, aber zum Glück nie jemandem gezeigt habe. Ich tat mich für dieses Projekt mit Doris Morf zusammen, weil es mir wichtig schien, dass die Geschichte auch vom weiblichen Standpunkt aus erzählt wurde.

Ich habe mich schon immer darüber geärgert, dass die Schweizer sich so gern als die eigentlichen Sieger des zweiten Weltkrieges sehen, dass viele von ihnen ernsthaft glauben, allein die Verteidigungsbereitschaft ihrer Armee während der „Aktivdienstzeit“ habe die deutschen Truppen von einem Überfall auf ihr Land abgehalten. In Wirklichkeit, so scheint es mir, hat die Schweiz davon profitiert, dass ihre Inselposition für alle Seiten nützlich war, und hat sich, wenig heldenhaft, aber mit lobenswerter und keineswegs zu tadelnder Schlauheit, geschickt durch eine schwierige Zeit manövriert. Um gegen diese eidgenössische Selbstüberschätzung anzugehen dachte ich mir ein „Was-wäre-wenn?“-Szenario aus, in dem die Geschichte anders verlaufen war.


Das Buch geht von der Fiktion aus, dass die Truppen des nationalsozialistischen Großdeutschland am 10. Mai 1940 in die Schweiz einmarschieren und das Land sehr schnell erobern und ins Dritte Reich integrieren. (Den Tessin bekommt Mussolini als kleine nachbarschaftliche Gefälligkeit.) Am 1. August 1941, zum 650. Geburtstag der Eidgenossenschaft ist es sogar Adolf Hitler persönlich, der auf der Rütliwiese die Festansprache hält. Schließlich, nach ein paar Jahren der Anpassung, des Wegschauens und der Faust im Sack, wird die Schweiz von den amerikanischen Truppen wieder befreit und zimmert sich sofort eine Legende, nach der man eigentlich ja immer schon Widerstand geleistet habe.

Die Geschichte wird in fiktiven Interviews mit Leuten erzählt, die diese Anschlusszeit miterlebt haben und sich an einzelne Episoden erinnern. Um die Fiktion besonders glaubhaft zu machen, verfasste der Historiker Sepp Wandeler ein Glossar, in dem sich echte und getürkte Literaturhinweise genau so vermischten wie Wahrheit und Fantasie im ganzen Buch.

Der beste Jasser vom Wauwilermoos

Der beste Jasser, den ich je gekannt hatte, hieß Elias Marmelstein. Der hat, solange ich mit ihm gespielt habe, nur ein einziges Mal gewonnen. Und da wurde gar nicht gejasst.
Der Marmelstein war von Hause aus ein Schachspieler. Ein Meister oder Großmeister oder wie man dem sagt. Ich verstehe nichts vom Schach. Er war so ein schmaler Wurf, ein Gesicht wie blaue Milch. Wenn man den angeblasen hätte, der wäre gleich umgefallen. Oder bei der Arbeit.
Es war sein Glück, dass er aufs Büro gekommen ist. Wir haben einen gebraucht für den ganzen Papierkrieg. Für uns war der Marmelstein auch ein Glücksfall.
Ein Gedächtnis hat der gehabt, das kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Ein richtiger Computer war das. Wenn man dem eine Zahl einmal gesagt hat, dann hat er die überhaupt nie mehr vergessen.
Und jonglieren konnte er damit, es war zum verrückt werden. Es musste ja immer abgerechnet werden, ganz tüpflischeißerisch genau, und Listen musste man schreiben. Ich habe manchmal gesagt, wenn es so weitergeht, dann koche ich bald nur noch Buchstabensuppe aus lauter Zahlen.
Ich war als Koch im Lager, nur als Koch. Man musste Arbeit nehmen, wo man sie bekam. Und es ist auch vieles übertrieben von dem, was man heute über das Lager Wauwilermoos erzählt.
Also, der Marmelstein. Der hat die Arbeit gemacht für den Rechnungsführer, und das war nicht einfach. Jeden Sack Kartoffeln musste man in den Büchern haben und jedes Kilo Fleisch. Aber die SS-Leute haben gestohlen wie die Raben. Vor allem die Höheren. «Wie die Raben» sollte man eigentlich nicht sagen, weil es nicht stimmt. Ich habe einmal einen zahmen Raben gehabt, und der hätte nie etwas gefressen, was ich ihm nicht an seinen ganz bestimmten Platz gelegt habe.
Es hat also immer vieles gefehlt, aber die Bücher mussten doch stimmen. Wenn man den Weltkrieg mit Formularen hätte gewinnen können, dann würden heute überall die Nazis regieren. Die Zahlen mussten stimmen, dann war alles andere egal.
Der Marmelstein hat dafür gesorgt, dass die Zahlen immer gestimmt haben. Da konnte einer kontrollieren, soviel er wollte, in den Büchern war alles am Ort. Natürlich hat der Marmelstein genau wissen müssen, was gefehlt hat, sonst hätte er die Abrechnungen nicht richtig doktern können. Der hat so viel Geheimnisse gekannt, dass alle gedacht haben: früher oder später geht es ihm an den Kragen. Aber es war dann nicht deswegen.
Ich muss noch erklären, dass in dem ganzen Lager nur drei Schweizer waren, außer den Häftlingen natürlich. Zwei aus der SS und ich. Die höheren Chargen waren alle aus Deutschland gekommen. Der Dienst in der Schweiz war beliebt, und dann haben sie uns auch nicht so getraut. Wenn es vier gewesen wären, dann wäre es vielleicht anders gegangen mit dem Marmelstein.
Die deutschen SS-Leute haben immer nur Skat gespielt, und mit drei Leuten kann man keinen Schieber machen. Immer nur Bieter ist langweilig, wenn keiner mehr als fünfzig Punkte über das Minimum geht, wenn er nicht schon einen Matsch auf der Hand hat und noch ein Vierblatt dazu.
Ich weiss nicht mehr, wie ich darauf gekommen bin, den Marmelstein zu fragen, ob er jassen kann. Wahrscheinlich einfach, weil ich so viel mit ihm zu tun hatte wegen der Abrechnungen.
Er hat gesagt, nein, jassen kann er nicht, aber er könnte es sicher ganz schnell lernen, schwerer als Schach werde es wohl nicht sein. Sie werden es nicht glauben, aber er hat den Schieber gelernt, bevor er ein einziges Mal eine Karte gesehen hat. Nur aus dem Kopf. Während wir die Abrechnungen gemacht haben über die Lebensmittel habe ich ihm die Karten erklärt und die Regeln. Dass man den Trumpf-Buur nicht farben muss, und dass man die Stöck erst weisen muss, wenn man sie spielt, und all diese Sachen. Aus dem Kopf hat er sich alles gemerkt, das kann man sich kaum vorstellen.
Den ersten Jass haben wir dann an einem Abend gemacht nach dem Appell. Eigentlich war es ja verboten mit einem Häftling, aber in so einem Lager geht manches, wenn man weiss wie. Es durfte es bloß keiner von den ganz Oberen merken.
Der Marmelstein hat wirklich gut gejasst, schon beim ersten Mal. Noch nicht so wie nach ein paar Wochen, aber auch nicht wie ein Anfänger. Wir waren zusammen, und außer dass er zuerst nie die Farben zurückgebracht hat, die ich gezogen habe, konnte ich eigentlich nichts sagen. Wir haben nur knapp verloren und einmal sogar einen Matsch schreiben können, ich weiss es heute noch, weil ich mich so gewundert habe darüber.
Es ist nicht lange gegangen, und der Marmelstein hat gejasst wie ein kleiner Herrgott. Jassen ist ja vor allem eine Frage vom Gedächtnis, und das hat er gehabt. Jede Karte hat er gewusst, nicht nur was Bock war, oder wieviele Trümpfe schon gegangen sind, sondern einfach alle. Dem wäre es nie passiert, dass man nur hundertsiebenundfünfzig Punkte macht statt hundert mehr, weil die andere Partei noch einen blöden Brettlistich eingesammelt hat.
Gewonnen hat er nie. Ich meine, schon ein Spiel oder sogar ein paar hintereinander, aber nie einen ganzen Abend. Manchmal, wenn man mit ihm zusammen schon weit vorne war, hat man geglaubt, dass es diesmal klappt. Aber dann sind die anderen immer noch ganz knapp herangekommen. In der Schlussabrechnung haben immer ein paar Punkte gefehlt.
Das hat er absichtlich gemacht. Er hat es mir einmal erklärt, ich habe mich gut verstanden mit ihm. Er hat nicht gewinnen wollen, weil ein Häftling, der gegen die SS-Leute gewinnt, das wäre nicht gut gewesen für ihn. Aber ganz knapp verlieren, ohne dass man die Absicht gemerkt hat, das hat ihn beliebt gemacht.
Wenn Sie mich fragen: das ist eine noch viel größere Leistung als einfach auf Gewinn spielen. Da muss man wirklich alles im Kopf behalten können. Mir war es gleich, wenn ich mit ihm zusammen verloren habe. Es ging nicht um Geld. Der Marmelstein hätte sowieso keines gehabt.
Wir sind dann vom Schieber zum Differenzler übergegangen, und da wurde es noch viel verrückter. Der Differenzler, das ist das schwerste, was es im Jassen gibt. Drum spielen sie es ja auch heute im Samschtig-Jass am Fernsehen, weil man da wirklich sehen kann, ob einer drauskommt.
Es war wieder dasselbe mit dem Marmelstein: er hat ganz knapp verloren. Jedes Mal. Die beiden SS-Leute waren ganz stolz. Die haben sich für viel bessere Jasser gehalten als sie wirklich waren. Und damit hat das Unglück angefangen. Der eine von den beiden – Kari hieß er, den anderen Namen will ich lieber nicht sagen – der ist ganz größenwahnsinnig geworden. Er hat ausgerufen wie der Kaiser persönlich und hat angefangen Vorträge zu halten, dass die Juden halt eben doch minderwertig sind und die Germanen überlegen, und beim Jassen zeigt es sich. Der hatte es gerade nötig, es haben alle gewusst, wie er zur SS gekommen ist, eine ganz wüste Sache war das, aber die gehört jetzt nicht hierher.
Der Marmelstein hat keinen Ton gesagt, nur die Karten wieder gemischt und im nächsten Spiel wieder verloren. Und der Kari ist immer lauter geworden.
Im Grunde bin ich schuld. Der Kari ist mir so auf die Nerven gegangen mit seiner Plagiererei, dass ich ihm einmal gesagt habe, dass der Marmelstein ein Schachmeister ist, und Schach sei überhaupt das allerschwerste Spiel, das könne man überall nachlesen.
Am nächsten Tag hat der Kari ein Schachspiel mitgebracht und hat verlangt, dass der Marmelstein eine Partie mit ihm spielt, er will ihm beweisen, wer die überlegene Rasse ist. Der Marmelstein hat kein Wort gesagt, nur die Karten aus der Hand gelegt und sich vor das Brett gesetzt.
Es hat sehr lange gedauert. Ich könnte nie Schach spielen, das würde mir verleiden, so lange an einem einzigen Spiel. Wie gesagt, ich verstehe nichts davon, aber wie die Figuren immer weniger geworden sind hat man merken können, dass der Kari am Gewinnen war.
Am Anfang der Partie war er ganz still gewesen und konzentriert. Dann wurde er immer lauter und hat wieder von der Überlegenheit seiner Rasse angefangen. Der Marmelstein hat mit nichts reagiert, wie immer. Das konnte er ja auch gar nicht, als Häftling.
Bis der Kari geschrien hat, dass der Lasker ein Arschloch ist und nur durch eine Schiebung Weltmeister geworden. Ich kannte den Namen damals nicht, aber unterdessen weiss ich, dass der Lasker ein ganz berühmter Schachspieler war, Emanuel Lasker hieß er.
Man hat dem Marmelstein nichts angemerkt, aber auf dem Brett ging es tack, tack, tack, und die Figuren vom Kari sind immer weniger geworden. Und dann hat der Marmelstein ganz leise und giftig gesagt: «Matt!» Ich höre das heute noch. Und der Kari ist durchgedreht.
Nachher hatten wir nur Schwierigkeiten. Bei der nächsten Kontrolle haben sie gemerkt, dass ein ganzes halbes Schwein gefehlt hat, und ich sollte es gewesen sein, weil ich als Koch für die Lebensmittel verantwortlich war. Das war eine schlimme Zeit. Ich habe Glück gehabt, dass ich davon gekommen bin.
Wir haben nie mehr einen gefunden, der die Bücher so gut doktern konnte. Und mit dem Jassen war es auch vorbei.
Jawohl, der beste Jasser, den ich je gekannt habe, das war der Elias Marmelstein. Obwohl er nicht gewinnen durfte.

 

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