Kinderbuch
mit Illustrationen von 
Chrigel Fahrner
144 Seiten
Atlantis Verlag Zürich, 2007

Vor vielen Jahren, als meine Kinder noch Kinder waren und ich die Illusion hatte, sie mit so etwas beeindrucken zu können, schrieb ich für Radio Basel eine Kinderhörspiel-Reihe. (Ich bin Jeannette Plattner heute noch dankbar, dass sie mir immer wieder Gelegenheit gab, meine Ideen im Studio umzusetzen.)

„Das alte Kind“ hieß die Reihe, und ich erzählte darin von einem fernen Planeten, wo die Menschen als Erwachsene zur Welt kommen und dann ganz langsam zu Kindern heranreifen und vernünftig werden. Und ich dachte mir aus, was alles passieren könnte, wenn eines dieser klugen alten Kinder die Erde besuchte. Es wurden ziemlich verrückte Geschichten.

Meine Kinder habe ich damit nicht beeindruckt. Oder sie haben es zumindest nie zugegeben. Aber einer Menge anderer Leute gefielen die kurzen Hörspiele, und ich wurde noch Jahre später immer wieder darauf angesprochen. Deshalb zögerte ich auch nicht lange, als mir der Verleger Hans ten Doornkaat vorschlug, daraus ein Kinderbuch zu machen. Die Arbeit daran machte mir wieder genau so viel Spaß wie damals das Erfinden der Hörspiele.

Vielleicht sogar ein bisschen mehr Spaß. Denn mit Chrigel Fahrner kam ein Zeichner mit überbordender Phantasie als Illustrator dazu. Wie er die Erlebnisse des alten Kindes optisch umsetzte – das allein ist schon Grund genug, sich das Buch zu kaufen. Und es ganz schnell selber zu lesen, bevor man es seinen Kindern, Enkeln oder Patenkindern weiter schenkt.

Übersetzungen:
Chinesisch
Koreanisch

Ich saß an meinem Schreibtisch, wie an jedem Wochentag, und versuchte mir eine Geschichte auszudenken. Eine ganz besondere Geschichte sollte es werden, das hatte ich mir vorgenommen. Es fiel mir nur keine ein. Weder eine besondere noch eine gewöhnliche. Einfach überhaupt keine. Und deshalb kaute ich auf meinem Bleistift herum. Das tue ich immer, wenn mir nichts einfällt. Also eigentlich dauernd.
Ich kaute und kaute und plötzlich sagte eine Stimme: „Darf ich auch einmal probieren, bitte?“
Ich biss mir auf die Zunge. Vor Schreck. Weil ich nämlich allein in meinem Zimmer war, und wenn man allein ist, sollte es keine Stimmen geben, die einen solche Sachen fragen. Wenn man allein ist, sollte es überhaupt keine Stimmen geben.
Ich biss mir also auf die Zunge und machte: „Aua!“ Und die Stimme fragte: „Heißt das ja oder nein?“
Es war eine Kinderstimme, aber ich hätte nicht sagen können, ob sie zu einem Jungen oder zu einem Mädchen gehörte. Das war mir in dem Moment auch völlig egal, denn in meinem Zimmer durfte es weder ein Mädchen noch einen Jungen geben. Weil ich nämlich jedes Mal die Tür abschließe, bevor ich mich an meinen Computer setze. Damit mich niemand stört, wenn mir gerade eine Geschichte einfällt. Und schon gar nicht, wenn mir keine einfällt.
Aber da war jemand in meinem Zimmer. Oder, genauer gesagt: Da war jemand halb in meinem Zimmer. Dieser Jemand hatte einfach seinen Kopf durch die Tür gesteckt. Durch die geschlossene Tür, wohlgemerkt. Durch die geschlossene Tür, in der kein Loch war.
Sagt jetzt bitte nicht, dass das überhaupt nicht möglich ist. Sonst müsst ihr das nämlich in diesem Buch noch hundertmillionenmilliardenmal sagen. Naja, vielleicht nicht ganz so viel. Aber auf jeden Fall ganz schön oft.
Niemand kann seinen Kopf durch eine geschlossene Tür stecken, das weiß ich selber. Eine Tür ist eine Tür, und durch dickes Holz geht kein Kopf. Aber genau das war passiert. Da war ein Kopf, und der Kopf sagte: „Du gibst mir ja überhaupt keine Antwort.“
Ich sagte: „Grrglgmpf“, oder was man eben so sagt, wenn man sich gerade vor Überraschung verschluckt hat.
„Komisch“, sagte der Kopf. „Das steht nicht in meinem Wörterbuch.“
„Was?“
„Grrglgmpf.“
„Das ist ja auch kein Wort!“
„Du hast es aber gerade gesagt.“
„Ich habe mich nur verschluckt.“
„Das kann nicht sein“, sagte der Kopf.
„Wieso nicht?“
„Du bist noch da. Wenn du dich verschluckt hättest, müsstest du verschwunden sein.“
„Ich habe doch nicht mich verschluckt!“
„Sondern?“
„Niemanden!“
„Du hast aber gesagt…“
Wenn Erwachsene nicht weiter wissen, dann werden sie laut. Also fing ich an zu schreien.
„Wie bist du hier hereingekommen?“ schrie ich.
„Durch die Tür“, sagte der Kopf. „Das siehst du doch.“
„Das geht aber nicht!“
„Dann muss ich etwas falsch verstanden haben. In meinem Reiseführer steht, dass man in diesem Land durch die Tür hereinkommt.“
„Aber doch nur wenn man sie vorher aufgemacht hat!“
„Aufmachen?“ sagte mein seltsamer Besucher. „Das ist ja sehr umständlich. Aber wenn das hier so üblich ist…“

 

Zurück zur Übersicht